Tolhurst – Goth: A History (Buch)

Der Mitbegründer und Drummer von The Cure, Lol Tolhurst, hat 2023 eine ‚Geschichte der Gothic-Bewegung‘ – im Original: Goth. A History – vorgelegt. Das, obwohl er von sich im Nachwort sagt, er sei kein Historiker, er habe das Vorhaben, eine ‚comprehensive encyclopedia‘ zu schreiben, aufgegeben.
Daher ist in meiner Wahrnehmung ein Großteil des Textes eher im Plauderstil geschrieben, wo ich mir manchmal doch mehr „encyclopedia“ gewünscht hätte.

In diesem Sinne zitiert er auch öfter Dr. Tracy Fahey, die er als „Goth historian“ bezeichnet, greift also auf deren Erkenntnisse und Einschätzungen zurück.

Ich nehme mein Leseerlebnis vorweg: das Buch hat mich zu Anfang gerade wegen des Schreibstils fasziniert. Deswegen habe ich in diesem Beitrag schon ein wenig zitiert und das ähnliche Werk von Unsworth kritisiert.
Aber ab der Mitte habe ich quergelesen, immer schneller werdend. Und ja, es ist als ‚History‘ erkennbar, aber gerade kein typisches Referenzwerk. Was mich durchweg störte, ist der ständige Bezug auf The Cure. Da hätte auch der Hinweis auf die Autobiographie des Autors, „Cured“, gereicht, die man bei Bedarf ja konsultieren kann. In den Kapiteln zu einzelnen Bands kommt Tolhurst z.B. auf Depeche Mode zu sprechen. Fünfter Satz zu dieser Band: „I left The Cure in Christmas 1988 due to…“ The Cure nimmt im Buch mit seinen 242 Seiten (Quercus Editions, London, 2023) 25+ Seiten (!) ein, Joy Division nochmal ca. 20 (s.u.) – also ein Sechstel des Werkes für zwei Bands…

Das Werk ist in drei große Abschnitte unterteilt: Origins, Eternals, Legion.

In Origins, untertitelt „From Punk to Poignancy“, schildert Tolhurst das non-konforme und melancholische Element dieser neuen Musik, die sich aus dem Punk entwickelte. Der Nihilismus des Punk wurde zur Sinnsuche im Gothic. Doch diese „New Wave“, dieser „Post Punk“ mußte sich erst entwickeln. Ein Standard-Motiv sei „darkness“ gewesen. So kommt Tolhurst auf die typischen „gothic novels“ und ihre Autoren zu sprechen, die er kurz vorstellt (Poe, Shelley, Stoker…), um dann modernere Autoren zu erwähnen (z.B. Sylvia Plath). Von der Literatur springt er zur Musik zurück – und erwähnt gleich als Ursprung dieser neuen Gothic-Musik: The Doors. In kurzen Abschnitten geht es über weitere Künstler, die ich z.T. nie mit Gothic verbunden hätte, durch die 70er und 80er Jahre.

Das zweite Kapitel, Eternals, startet mit Joy Division, die für meinen Geschmack zu ausführlich inkl. Kurz-Anmerkungen zu jedem Song auf Unknown Pleasures vorgestellt werden, bevor es mit Bauhaus, dann Siouxsie & the Banshees weitergeht. Bela Lugosi’s Dead werde von „vielen“, so Tolhurst, als „first ‚Goth‘ release“ gesehen. In diesem Kapitel, untertitelt „Architects of Darkness“ geht es v.a. um die Jahre 1979 bis 1982, um die erste Generation – die Eternals. Als Schlagzeuger ist Tolhurst davon überzeugt, „the drums are the signature of the genre, the primal impulse“. Und weiter: „I played with the urgency of punk and the sadness of Plath.“ Ab und zu driftet Tolhurst ins Klischeehafte ab, wenn er z.B. meint Gothic sei, wenn Liebe und Tod in einem einzigen Lied zusammenkommen.

Aus den „Architekten der Dunkelheit“ wurde „Legion“; das dritte Kapitel ist mit „Spiritual Alchemists“ untertitelt und beschreibt die Bands der von Tolhurst so verstandenen zweiten Welle. Er schreibt über die Cocteau Twins, Wire, die Sisters und The Mission, The Damned, And also the Trees sowie All about Eve. Vom Phänomen Batcave springt er zu Depeche Mode und Death Rock.

Mit „We are many“ beginnt der Schlußteil des Buches. „We“, also die Goths, seien „romantic and melancholic nonconformists who have somehow avoided relinquishing their way of being and becoming more conventional.“

Der Abschnitt „Why Goth matters“ ist nochmal spannend, weil Tolhurst ganz kurz politische Themen unserer Zeit anreißt, wenn er z.B. meint, die freie Meinungsäußerung werde in Zukunft durch Regierungen mehr und mehr beschnitten. Die Kunst werde zunehmend kontrolliert und ‚fake news‘ als Waffe verwendet. Dem stellt er Gothic gegenüber:

„Goth comes in as the last true alternative outsider subculture. As a type of cultural resistance, it will push something good forward on that beautiful, bleak wave of art, the wave that started for me that night long ago in a darkened room in August 1977…“

Dieses Zitat habe ich schmunzelnd gelesen und dachte, „da hat sich jemand mit seiner History so in einen Flow geschrieben, daß er Dinge zu positiv konnotiert…“ Die „cultural resistance“ findet ganz woanders statt und wird von ganz anderen Personen getragen, lieber Herr Tolhurst. Das ist (IMHO) natürlich sinnfrei, in der alternden Gruftie-Schar eine kulturelle Widerstandsbewegung zu sehen. Aber gut, lassen wir es einem Urgestein wie dem Cure-Drummer durchgehen…

Alles in allem ist das Buch ein kurzweiliger Überblick über das Gothic-Phänomen von seinen literarischen Ursprüngen über die musikalischen Vorläufer ab Ende der 1960er und bis heute – durch die Brille eines Protagonisten, der halt eben eigene Schwerpunkte setzt, wo eine Enzyklopädie ausgewogener verfaßt werden müßte (und z.B. auch ein Stichwortverzeichnis haben müßte, das hier komplett fehlt). So ist die Künstlerauswahl – in der von Tolhurst gesehenen Bedeutung für die Subkultur – subjektiv, aber durchweg nachvollziehbar, doch auch fokussiert auf den englischen Sprachraum. Bei einigen Bands kann ich erkennen, daß die Autoren der aktuellen „Gothic-Geschichten“ sich nicht einig sind: Tolhurst erwähnt Adam & the Ants eher im Nebensatz, während Robb (The Art of Darkness) zum Schluß kommt: „(Adam) was the bridge between the end of glam, the beginning of punk and the brave new world of post-punk and the gateway to the goth scene that he was a key influence on. In many ways, Adam was the last glam rock star…“

Das Buch läßt sich gut lesen, hinterläßt bei mir aber den Wunsch nach einer umfangreicheren und strukturierteren Geschichte der Gothic-Szene.

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