Midnight Mass (Serie) – wie kraß geht Kirchenhaß?

Ich bin auf den Regisseur Mike Flanagan über die Forsetzung des Exorcist-Franchises gekommen: Flanagan soll das Ruder von Green übernehmen, dessen Exorcist: Believer floppte. Längere Zeit hatte ich schon Midnight Mass auf der Watchlist auf Netflix, und habe mir die Serie nun konkret vor dem Hintergrund angesehen, daß darin katholische Kirche und Vampirismus thematisiert werden, und daß Flanagan den kommenden Exorzisten-Film drehen soll. Wird das gutgehen? Was als einfache Frage gedacht war, verzerrte sich zur Aussage: „Bloß nicht Flanagan!“

Ja, ich will zu Midnight Mass fragen, wie kraß, wie bösartig Kirchenkritik sein kann oder darf. Den Inhalt der Serie setze ich als bekannt voraus, spoilere also ab jetzt hemmungslos. 😉

Vorab: In der englischen Wikipedia heißt es zu Mike Flanagans Motivation zur Erschaffung dieser Serie: „Series creator Mike Flanagan described Midnight Mass as a passion project, one that was „deeply personal“ and dealt intimately with Flanagan’s upbringing in the Catholic Church, and his eventual sobriety and atheism.“

Flanagan ist kein Unbekannter im Horror-Genre, insbesondere was Serien angeht: Haunting of Hill House, Fall of the House of Usher, Haunting of Bly Manor. Ohne mich mit seiner Person befaßt zu haben, mag ich von ihm sehr: Gerald’s Game – ein wirklich beklemmender Film. Auch Ouija: Origin of Evil ist einer der besseren Horrorfilme über die Nutzung des Ouija-Boards. Ich muß aber auch zugeben, daß ich die Netflix-Serien eher nebenbei geschaut habe, mochte, aber na ja, nicht genauer analysiert habe.

Nun hat Flanagan offenbar auf der Basis seiner Wandlung zum Atheisten eine Art Abrechnung mit der katholischen Kirche gefilmt – Midnight Mass.

Darin nehmen wir teil am Leben der 120 Menschen auf einer kleinen Insel; gedreht wurde bei Vancouver Island, British Columbia.
Der alternde Priester der katholischen Kirche St. Patrick will sich einen Lebenstraum mit einer Pilgerreise nach Israel erfüllen. Dort passiert eine Verwandlung: von einem Sandsturm in eine Höhle getrieben, wird er von einem gargoyl-artigen, bleichen, mächtigen Wesen angegriffen. Die Inszenierung ist klar am Vampir-Thema ausgerichtet: das Wesen saugt das Blut aus, danach flößt es dem Priester Blut aus seiner Klaue ein, woraufhin eine Wandlung passiert: der „neue“ Priester, der als Vertreter auf die Insel kommt, ist tatsächlich der alte in verjüngter Form… Und er hat dieses Wesen, das er als „Engel des Herrn“ bezeichnet, mit nach Amerika gebracht.

Hier ist die Interpretationsebene noch überschaubar: Jeder katholische Priester hat seinen „Schatten“, seinen dunklen Persönlichkeitsanteil. Der „gute, christliche Hirte“ hat seinen vampirischen Anteil sozusagen, der Leben saugt. Denkt man an den Mißbrauchsskandal der Kirche(n), kann man das Bild übertragen: den jungen Opfern wurde durch die Täter Lebensenergie entzogen.

Doch wie der Regisseur das Thema dann ausrollt, zeugt m.E. von einer tiefen Verachtung nicht nur für die Kirche, sondern auch für die Gläubigen – oder gläubige Menschen generell.
Doch zunächst werden wir als Zuschauer verwirrt, was wohl ein Zugeständnis an die Präsentationsform „Serie“ ist, wo alles breiter, langatmiger dargestellt wird. Ein gelähmtes Mädchen wird geheilt – und genau dieser „junge“ Priester kannte das Wunder vorab. Nebenbei passieren andere Dinge, die mit dem positiven Geschehen kontrastieren: so wird der örtliche Drogendealer von einem „Wesen“ getötet.

Atheistische Gegenposition zum Priester ist der Fischersohn Riley, der als Yuppie auf dem Festland Geld verdiente, dann aber als betrunkener Fahrer für den Tod einer jungen Frau verantwortlich war. Mit seiner Rückkehr aus dem Gefängnis beginnt die Serie. Auf Bitte seiner Eltern geht der Atheist mit zur Kirche. Als Bewährungsauflage muß er an AA-Treffen teilnehmen, die der Priester für ihn als 1:1-Gespräche auf der Insel anbietet, damit er nicht zum Festland fahren muß.
Nur in der schwangeren, gläubigen Erin hat Riley eine Seelenfreundin. Unglaublich intensiv ist die lange Szene, in der beide sich zum dezenten Hintergrundlied „Nearer, my God, to thee“ erzählen, was sie nach ihrem Tod erwarten. Riley schildert die atheistische Version: sein Körper wird von verschiedensten Organismen zersetzt, so daß „er“ in anderer Form „weiterlebt“. Erin hingegen schildert den katholischen Himmel so, daß es ein liebevoller Ort ist, eine Heimkehr zu den Menschen ihrer Familie, die dort warten.
Inhaltlich kommt man nicht überein, aber berührend ist die Szene, in der Riley bereit ist, mit Erin zu beten. Ganz großes Kino – und Menschlichkeit wie sie gelebt werden sollte – jenseits der organisierten Religiosität.

Der verjüngte Priester verstirbt plötzlich, um nach wenigen Minuten aus dem Tod zurückzukommen. Die sehr glaubenseifrige Gemeindedienerin/Küsterin, die im jungen den alten Priester erkannt hat, deutet dies als Zeichen der 2. Wiederkehr Jesu. Sie ist Katalysator der ganzen Abläufe.

Was nun beginnt, ist im Grunde die Ausbreitung dieses Vampirismus im Zeichen der katholischen Lehre, auch wenn das Wort Vampir nicht ein einziges Mal erwähnt wird. Der „Engel des Herrn“ tötet Riley (das kann man als Zwangsbekehrung deuten), der natürlich auch wiederbelebt wird und bald feststellen muß, daß die Sonne seine Haut versengt.
Es ist erklärtes Ziel des Priesters, diese Verjüngung, diese Verwandlung durch das vampirische Blut, das er als Geschenk Gottes versteht, verbrämt im christlichen Gewand an die Gemeindemitglieder zugeben. Somit wird die Regression, als die man den Effekt verstehen kann, Programm: zurück zu einem Bild von ewiger Jugend, zurück zum Garten Eden.

Im Grunde ist das Bild, das Flanagan hier benutzt, der Vampirismus, so, daß man deuten muß: die katholische Kirche stülpt sich wie eine Seuche über die Menschen, die der Agitation der Kirchenoberen nicht widerstehen können, ja, die sie noch nicht einmal ganz durchschauen.
Der Priester ist klar als „verblendet“ zu verstehen, der den Angriff des Vampirs vor seinem religiösen Hintergrund deutete. Er fiel auf den Dämon rein, denn ein Dämon ist dieser „Engel des Herrn“ ja nun. Dies ist klar als Kritik am Klerus zu verstehen, der auf verschiedenste „Dämonen“ in der langen Kirchengeschichte reingefallen ist: Macht, Geld, Sex, Unterdrückung, Folter.

Wer durchschaut, ist eben „unser Atheist“ Riley, der nach der Verwandlung seine Jugendliebe Erin warnt, bevor er sich selbst opfert und von der Sonne verbrannt wird. Von der schönen Vision, daß sich viele Organismen von seinen sterblichen Überresten ernähren werden, bleibt leider nur Asche übrig. Riley ist der „Judas“ der Geschichte, der die „guten Gläubigen“ vom Weg abbringen will.
Spannend hier: Riley war als Kind Meßdiener. Er brachte dem Priester eine kranke Maus mit der Frage, ob Gott sie heilen könne. Konnte er *hust*, denn der Priester tauschte die kranke gegen eine gesunde Maus aus und präsentierte dem Jungen „das Wunder“. Nimmt man diese Geschichte und kombiniert sie mit dem, was man in der letzten Folge über den Priester erfährt (er ist Vater der lesbischen Ärztin im Ort), dann versteht man, daß er lange vor der Israelreise „gefallen“ ist, was man im Sinne der Exorzismus-Thematik als Einfallstor für den Dämon sehen kann.

Mittlerweile sind durch die Beigabe des Vampirbluts etliche Menschen der Gemeinde betroffen oder verändert. Der Fötus der schwangeren Erin ist auf unerklärliche Weise aus der Gebärmutter verschwunden; ihr Blut verbrennt in der Sonne.
(Ich habe mich gefragt, ob hier das Thema Abtreibung aufgegriffen wird, glaube aber, daß das eine Überinterpretation ist. Im Film ist die Deutung eher so etwas wie Autophagie: der (vampirisch veränderte) Körper sieht den Fötus als Feind und resorbiert ihn.)

Grande Finale, Teil 1 – der quasi-Massen-Suizid mit glorreicher Auferstehung in der Kirche, gefolgt von gegenseitigem Abschlachten und Blut-Sauf-Orgie. Vergegenwärtigen wir uns: der Film erzählt keine Geschichte einer morbiden Sekte mit Kollektivsuizid, sondern all das findet in einer katholischen Kirche statt!
Grande Finale, Teil 2 – die beiden Muslime, Sheriff und Sohn, retten die Menschheit vor der Ausbreitung der Vampir-Seuche (mithin also der katholischen Kirche!). Zur Titantic-Szene mit großem „Nearer-my-God“-Chor verkokelt der Rest der Bewohner.

Interessanterweise macht irgendetwas/-wer die Heilung des kleinen schwarzen Mädchens rückgängig: sie überlebt, ist aber wieder gelähmt. Damit endet die Serie.

Nein, halt! Das eigentliche Ende ist der lange Monolog der sterbenden Erin, die auf das o.e. Gespräch zum Thema Tod mit Riley zurückkommt und – oh Wunder! – genauso atheistisch, oder sagen wir: naturalistisch rüberkommt wie Riley: Der riesige Kosmos, die unzählbaren Galaxien – das nennen wir Gott (wo Gott vorher Liebe war). Daher stammen wir, aber es gibt kein singuläres Ich. Das Leben ist ein Traum; es gibt keinen Tod. Sie spricht vom Tropfen Wasser, der (wieder) ins große Meer fällt – und erinnert mich an den großen Denker, Mönch und Zen-Lehrer Willigis Jäger, der sehr ähnliche Gedanken zu einer apersonalen (und damit nicht mehr Katechismus-kompatiblen) Gottheit geteilt hat. Er sprach immer von der Welle, die sich nicht als einzelne, getrennte Welle erlebt, sondern sagen kann: ich bin Ozean. Das ist alles schön und gut – und Erins Abschiedsrede zeigt ja nun: die gläubige Katholikin ist am Ende zur Atheistin geworden, was die Serie uns prominent als „Moral von der Geschicht“ präsentiert.
Ja, das kann man denken; nein, das ist nicht katholisch. Das Bio Pic von Herrn Flanagan ist damit zu Ende.

………….

Fazit: Man darf der Kirche den Rücken zukehren – man darf Atheist werden, aber, wie in so vielen Alltagsszenarien: muß man nachtreten? Muß man Kritik so haßerfüllt visuell präsentieren, wie Flanagan es in Midnight Mass tut? Dabei ist die Mini-Serie ja eher so ein schönes Vampirmärchen für ein verregnetes Binge-Watching-Wochenende. Schaut man sich aber an, was Flanagan da wirklich aussagt, wird einem (mir) übel: die Kirche als die Lebensenergie aussaugende Seuche; die manipulierten, weil manipulierbaren (da gläubigen) Menschen; der von einem (oder mehreren) Dämon(en) verblendete Klerus, der alle hinab in den Schlund der Verdammnis zieht. Und der schon lange vor dem Treffen mit dem „Engel des Herrn“ gefallene Priester. Somit Aussage Flanagans: der katholische Klerus ist ein verachtenswerter Haufen; die katholischen Gläubigen sind dumme Schafe; die Muslime sind aufrichtiger und werden die Welt retten; aber letztlich ist es nur der kosmisch verstandene Atheismus, der den Weg freimacht für ein wirkliches Verständnis unserer Existenz. Ich vermute, das ist eine Lieblingsserie von Richard Dawkins.

Nein, ich glaube nicht, daß dieser Mike Flanagan irgendetwas Gutes für das Exorcist-Franchise tun kann….

Ein Gedanke zu „Midnight Mass (Serie) – wie kraß geht Kirchenhaß?“

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner