Trigger-Warnung! Der Text behandelt auch das Thema Suizid/Selbsttötung. Wenn das für Dich ein Problem ist: bitte nicht lesen!
Hier gibt es eine Vorbemerkung zu dieser Textreihe.
Als ich das erste Mal vom Aokigahara-Wald (oder Aokigahara Jukai, Baummeer) nahe des Berges Fuji (Fudschijama) in Japan hörte, fühlte ich mich magisch angezogen vom Thema: der „Suizid-Wald“ beschäftigt viele Menschen, zieht sie in seinen Bann.
Das geht ursprünglich auf einen Fortsetzungsroman von Matsumoto Seichō zurück, der unter dem Titel Nami no tō (Turm der Wellen / Wellenturm) 1959/60 in einer Zeitschrift erschien, dann 60 als Roman veröffentlicht und 1973 als TV-Serie verfilmt wurde. 1974 fand man diesen Roman bei einer Frauenleiche im Wald, auch 1985 wieder.
[Einer anderen Angabe zufolge handelt es sich um zwei separate Romane, nämlich den o.g. und Kuroi jukai (Schwarzes Meer aus Bäumen). Einmal geht eine Frau, das andere Mal ein Liebespaar zum Suizid in den Wald.]
Aber bereits vor dem Werk Seichōs wurden Leichen im Aokigahara gefunden – von Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen dort starben.
Die Zahlen der Leichenfunde in neuerer Zeit sprechen für sich. Während es zwischen 1978 und 1996 jährlich zwischen 20 und 70 Personen waren, ging die Zahl Anfang der 2000er auf über 100: 2003 – 105 und 2004 – 108 (nach Devlin: The Truth behind Japan’s Suicide Forest). Für 2010 gibt Ishikawa (La Forêt des Esprits) immerhin 200 Leichen an (ebenfalls hier). Laut eines YouTube-Videos soll es durch Corona ab 2020 auch wieder einen Anstieg gegeben haben, aber die Behörden veröffentlichen seit 2005 keine offiziellen Zahlen mehr, um die „Attraktivität“ des Waldes für Menschen mit suizidalen Gedanken nicht zu befeuern. Devlin (a.a.O.) schreibt, die erste Welle der Suizide sei von den Massenmedien erzeugt worden (also in der Berichterstattung z.B. über die o.e. Romane und TV-Serie), aber die zweite Welle komme durch die Social Media.
Möglicherweise sind die Suizidfälle aktuell (2024) wieder hoch, weil es nun ein Pilotprojekt mit Überwachungsdrohnen gibt, die 140m über dem Wald mit Wärmebildkameras nach Menschen suchen, die nachts, um nicht aufgehalten zu werden, in den Wald gehen. Das ist ein Versuchsbetrieb bis März 2025. Laut der Meldung auf asahi.com wurden 2023 immerhin 215 Suizide gemeldet, während es den Offiziellen gelungen sein soll, 235 Menschen davon abzuhalten. 30% der Toten stammen nicht aus der Region. In der angegebenen Quelle wird die Suizidrate in der Präfektur Yamanashi in zwei Folgejahren (wohl 2022 und 23) als zweithöchste in ganz Japan angegeben.
Vermutlich sind mindestens drei Faktoren für die Erzählungen um den Wald wichtig: ein historischer Mythos, wonach im 19. Jahrhundert arme Familien ihre Alten (und/oder Kinder), die sie nicht mehr ernähren konnten, zum Sterben in den Wald brachten (was man Ubasute („die Alten entsorgen“) nannte), und deren Geister nun umherirren sollen. Devlin (a.a.O.) schreibt darüber, konstatiert aber: nix genaues weiß man – hat das je so stattgefunden oder ist es nur ein Mythos? Dann seien nach dem Zweiten Weltkrieg auch etliche Soldaten nach der Niederlage Japans in den Wald gegangen und nicht zurückgekehrt, was auch der Grund dafür sei, daß Eltern ihre Kinder davor gewarnt haben sollen, den Wald zu betreten.
Dann natürlich die o.g. Romane, aber vor allem wohl das „Suizid-Handbuch“ (Kanzen Jisatsu Manyuaru) von Wataru Tsurumi aus dem Jahr 1993, in dem der Autor den Wald als „perfekten Ort“ für den Suizid anpreist, an dem man „nicht gefunden“ werde. Dieses Buch hatten etliche Menschen, deren Überreste man fand, dabei. Aber: oft findet man nur noch Knochen, weil der Aokigahara im Sommer ein extrem humides Klima hat, in dem sich tote Körper in wenigen Wochen zersetzen. Soviel zu „nicht gefunden werden“.
Beim Aokigahara handelt es sich um ein großes und dichtes Waldgebiet (ca. 3000 Hektar), das durchaus „verwunschen“ wirkt. Schaut euch mal ein paar Videos über den Wald an (oder das Bild auf dieser Seite direkt oben): dunkle Braun- und Grüntöne dominieren; noch immer herrschen Nadelbäume vor, aber es gibt zunehmend Laubbäume und dichtes Unterholz, das die Orientierung erschwert. Devlin (a.a.O.): „Even during midday it’s dim, dark, and full of shadows. (…) Once you leave the walking paths and enter the forest, that’s it. You’ll never get out again.“
Ishikawa (a.a.O.) beschreibt es so: „Il faisait de plus en plus sombre, l’atmosphère devenait de plus en plus oppressante. Le seul bruit qui résonnait dans cette forêt était le bruit qu’il faisait lui-même ou celui de corbeau qui criait au loin.“
[Es wurde immer dunkler, die Atmosphäre wurde immer bedrückender. Der einzige Laut, der im Wald widerhallte, war sein eigener (der der Hauptperson), oder der einer Krähe, die fern rief. (Übersetz. Rush)]
Entstanden ist der Wald, der sich nordwestlich des Fuji befindet, nach mehreren Ausbrüchen des gleichnamigen Vulkans, aber vor allem dem aus dem Jahr 864 (Great Eruption of Jougan). Auf dem Lavagestein siedelten sich zuerst Moose an, dann bildete sich eine flache Schicht Mutterboden, die auch heute oft gerade mal 2cm dick sein soll. Der gesamte Wald ist aufgrund des Lavagesteins von Spalten und Höhlen durchzogen, was für Wanderer große Risiken bedeutet.
Es bedeutet aber auch, daß es keine wirklich alten Bäume gibt, da der Boden keine starken, tiefreichenden Wurzeln zuläßt. Man sagt, der Wald ändere alle 50 Jahre sein Aussehen – im Zyklus früh absterbender und neu wachsender Bäume.
Mich fasziniert dieser Wald. Ich habe als Kind/Jugendlicher viel Zeit (allein) in Wäldern verbracht, die für mich immer Sehnsuchtsort, gleichzeitig aber auch Rückzugsort waren. Der Wald konfrontierte mich auch mit dem Tod, wenn ich tote Tiere fand, Knochen, Rehgehörne. So reizt mich der Aokigahara auf der einen Seite eben als „Wald“, als Natur (und Wandergebiet).
Zum anderen ist es natürlich das mediale Echo: da gehen Menschen in diesen Wald, töten sich – später findet man die Leichen – das hat ein ritualisiertes Element. Das Thema wurde in Büchern aufgegriffen, es gibt Spielfilme, es gibt Videos auf den einschlägigen Plattformen, die (angeblich) zeigen (sollen), wie Erhängte aufgefunden werden. Ich erinnere mich an ein Video eines Australiers, der abgelegte Sachen und ein von einem Felsvorsprung hängendes Seil fand – und darunter Knochen und einen menschlichen Schädel.
Mich hat der Wald in einer „nicht so guten“ Lebensphase intensiver als heute beschäftigt, klar, das war ja zu erwarten.
In Japan wird dem Wald etwas Spukhaftes zugeschrieben, so als zöge er die Menschen zu sich, in sich hinein, verleitete sie quasi zum Suizid (was der Film The Forest aufgreift). Menschen sind aus unterschiedlichen Gründen in diesem Wald unterwegs: Freiwillige Präventions-Helfer, Ranger und Waldarbeiter, die Leichen finden und bergen; Diebe, die es auf die Habseligkeiten der Toten abgesehen haben (sollen); Touristen, „Influencer“, Geister?
(Bei diesen Geistern können verschiedene Kategorien unterschieden werden: Yōkai (Dämonen), Yūrei (als Frauen erscheinende, ängstigende, aber harmlose Geister) sowie Onryō (rachsüchtige, bösartige Geister – zu diesem Thema plane ich keinen Beitrag).
Auf YouTube findet man etliche Videos, durch die man einen Eindruck vom Jukai erhalten kann. Da ist natürlich a) viel Schund dabei, und b) scheinen sich die Videos, die auch Leichen(reste) zeigen stark vermindert zu haben; offenbar wird da seitens YouTube stärker kontrolliert und zensiert. Auch findet sich jetzt (2024) unter Aokigahara-Videos – zumindest in der Smartphone-App – der Hinweis auf die Telefonseelsorge, was vor Jahren nicht der Fall war.
Wer ein gutes Video mit Übernachtung im Wald sehen möchte, der kann sich dieses anschauen, aber auch Trigger-Warnung: darin wird über den Suizid einer nahestehenden Person gesprochen.
Negative Kritik hat der Influencer Logan Paul geerntet, der eine 24-Stunden-Übernachtungs-Challenge 2017 im Aokigahara filmte und später Bildmaterial vom Fund einer Leiche online stellte. Paul hat sich im Nachhinein dafür (und seine Faxen) entschuldigt.
Natürlich gibt es auch die Stimmen, die den Hype („Dark Tourism“) schrecklich finden und über die „urban (rural?) legends“ aufklären, so Hiro von Einfach Japanisch (Video), der z.B. erklärt, daß die Erzählungen über nicht funktionierende Kompasse, GPS-Geräte und Handys Unsinn seien. Er beruft sich auf die Suizid-Statistik der konkreten Provinz, wenn er sagt, da gebe es keine auffällig hohe Suizidrate… (Anmerkung: Da die Toten, wenn sie sich identifizieren lassen, an Angehörige gegeben werden, kann es auch sein, daß sie dann in ihrer Heimatprovinz in die Statistik aufgenommen werden, nicht in Yamanashi, wo sich der Jukai befindet. Und der oben schon erwähnte Artikel im Zusammenhang mit den Drohnen scheint Hiro zu widersprechen.)
Der Aokigahara ist von regulären Wanderwegen durchzogen, wovon gesperrte Wege abzweigen. Hier findet man z.B. eine 12km-Runde durch das Gebiet und auf dieser Seite informiert die Tourist Info über Rundwege inkl. Höhlen (Ice Cave, Bat Cave, Ryugu Cave…).
Häufigster Startpunkt für Menschen, die in den Wald gehen, ist der Parkplatz an der Fugaku Wind Cave an der Bundesstraße 139, die den nordöstlichen Zipfel des Waldes durchzieht. Dort gibt es auch einen Shop. Die Landesstraße 71 durchzieht diesen östlichen, erschlossensten Bereich von Nord nach Süd.
Ein 20-minütiger Weg verbindet die Fugaku Wind Cave mit der Narusawa Ice Cave. Nach 50% dieses Wegs zweigt nach Süden (sozusagen ins Zentrum des Waldes) ein gesperrter ab: dorthin sollen sich die meisten Menschen zum Sterben zurückziehen (das ist die danchi genannte „Todeszone“). In Google Maps finden sich keinerlei Markierungen zu dieser Ebene des Themas „Aokigahara“.
Am Anfang der Wege stehen Schilder, die Menschen, die sich umbringen wollen, zum Nachdenken motivieren wollen und auf Schuldenregulierungsmöglichkeiten hinweisen:
„Your life is a precious gift from your parents. Quietly consider your parents, your siblings, and your children once more. You don’t need to suffer alone, talk things over with us first.“
Man findet vielerorts bunte Bänder (suzuran), die von Wegen abgehen. Damit wollten Menschen sicherstellen, umkehren zu können, wenn sie sich umentscheiden sollten. Diese Bänder sind auch im Film The Sea of Trees Thema und werden mit dem Märchen Hänsel & Gretel verknüpft. De facto vermüllen sie den Wald.
Frauenleichen findet man (lt. Devlin, a.a.O.) oft mit Schlaftabletten und Alkohol, Männer mit Zigaretten, Seil – und Alkohol.
Die offiziellen Stellen sind bemüht, das „Image“ des Waldes wieder zum Touristischen hin zu verschieben. Man nennt keine Leichenfundzahlen, man organisiert keine „Suchtage“ mit Freiwilligen mehr. Dafür gibt es seit 2008 Präventiv-Mitarbeiter der lokalen Verwaltung, die darauf geschult werden, potentielle Suizidgefährdete zu erkennen und anzusprechen. Dabei soll es auch schon unschöne Vorfälle gegeben haben, bei denen reguläre Touristen quasi bedrängt und „in Gewahrsam genommen“ wurden, weil sie keine Wanderkleidung trugen…
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Ich will in Folgebeiträgen Bücher vorstellen, ein Sachbuch (Devlin: Aokigahara: The Truth Behind Japan’s Suicide Forest), zwei Romane (Bates: Suicide Forest; Ishikawa: Aokigahara, la forêt des esprits) und einen 5-teiligen Comic (Bressend/Gil/Fejzula: Call of the Suicide Forest).
Dann möchte ich auf Filme eingehen: The Sea of Trees (2015), The Forest (2016) und Suicide Forest Village (Jukai Mura, 2021).
An The People Garden (2016) komme ich gerade über keinen mir bekannten Streaming-Dienst ran.
Hier gibt es noch einen Artikel der WELT von 2020 zu lesen.
Von mir gibt es neu eine Aokigahara-Neuigkeiten-Seite, die ich ab und an aktualisiere (= Teil 7 meiner Reihe).
[Meine Fotos auf diesen Seiten zum Aokigahara-jukai stammen aus einem Waldgebiet, das mir als sehr ähnlich von der Optik, nicht zwingend der Flora, erscheint: dem Anaga-Gebirge auf Teneriffa.]
3 Gedanken zu „Aokigahara (1) – Einführung“