Trigger-Warnung! Der Text behandelt das Thema Suizid/Selbsttötung. Wenn das für Dich ein Problem ist: bitte nicht lesen!
Hier gibt es eine Vorbemerkung zu diesen Texten.
Andererseits ist das besprochene Buch (La forêt des esprits) ein solches der Hoffnung.
Aokigahara, la forêt des esprits
Der Roman von Sarah-Lyne Ishikawa, der auch in einer englischen Version („The Forest of Spirits“) zu kaufen ist, ist im Prinzip ein Buch der Hoffnung („ne perdez pas espoir“ sagt eine Geisterstimme dem Protagonisten, „geben Sie die Hoffnung nicht auf“), das auf dem „suicide forest“ aufbaut und zeigt, wie man dem Plan zur Selbsttötung entkommen, mithin sein Leben anders orientieren kann. Ausschlaggebend für das Schreiben war laut Ishikawa der Suizid einer Freundin, den sie nicht vorhersehen konnte, und von dem sie nach wie vor sehr betroffen ist.
Mein Text spoilert den Inhalt des Buches. Alle Übersetzung der Original-Zitate sind von mir.
Im Grunde ist der Roman die Geschichte dreier Väter, die ihre Töchter verloren haben. Der Aokigahara wird mit vier Aspekten vorgestellt: a) als Wald, in dem Menschen sich töten, b) als Wald, in dem Geister existieren, c) als ein Ort, an dem kriminelle Banden Leichen Ermordeter ablegen, um es wie einen Suizid aussehen zu lassen (laut
Tara Devlin hält sich dieses Gerücht weiterhin), und d) als Ort von ‚urban legends‘ – Uhren, Handys, GPS-Empfänger sollen angeblich nicht funktionieren.
Protagonist Joben Sugawara hat alles verloren: seine zehnjährige Tochter Atsue durch einen Unfall, seine Frau, seinen Job, seine Wohnung. Er hatte sich verschuldet und sieht nur einen Ausweg: „Wiederherstellung seiner Ehre“ durch Suizid. Im Aokigahara, den die Autorin kurz mit Eckdaten vorstellt, angekommen, entzündet S. ein Feuer, weil er erst am Morgen „zur Tat schreiten“ will – gemäß Anleitung aus dem Suizid-Handbuch Tsurumis (s.
Einleitung).
Doch plötzlich ist Ajna Otsuka da mitten im Wald – zwei Jahre jünger als seine eigene verstorbene Tochter und mit einer haarsträubenden Geschichte, wie sie in den Wald gekommen sei: Der Geist ihres toten Vaters, so Ajna, habe sie zu S. geleitet. Das Mädchen ist aufgeweckt, erkennt S.s Situation und bittet ihn, keine Dummheit zu machen, sondern sie (und sich) zu retten. Sie motiviert ihn: „Tu devrais (…) te battre pour retrouver ta dignité !“ [Du mußt für die Wiedererlangung deiner Würde kämpfen!]
Als Leser spürt man, daß Ajna irgendwie enger mit dem Wald verknüpft ist. Der Link ist der Vater und dessen frühere berufliche Tätigkeit.
Bei der Rettung des ungleichen Paars erscheint zum ersten Mal eine Männerstimme in S.s Kopf, die ihm für die Rettung Ajnas dankt.
Der Roman verläßt nun für lange Zeit den Aokigahara-Wald. Im Grunde dreht sich der Hauptteil des Buches darum, wie S. wieder auf die Beine kommt und einen Adoptionsantrag für das Mädchen stellt. Es bezeichnet ihn früh als seinen „deuxième papa“, den zweiten Vater. Schön wird dargestellt, das ist wohl auch bewußte Absicht der Autorin, wie der zum Suizid entschlossenen S. wieder „auf die Beine kommt“. Er findet Hilfe bei einer sozialen Organisation, wo er auch übernachten kann. Er erhält Arbeit in seinem „Traumjob“ als Manga-Verkäufer bei einem der angesagtesten Verleger; der Arbeitgeber vermietet eine luxuriöse Wohnung an ihn. „Pour la première fois depuis des mois, il reprenait goût à la vie.“ [Zum ersten Mal seit Monaten hatte er wieder Lust aufs Leben.]
Alles gute Vorzeichen für die Adoption, doch S.s den Ämtern bekannte Suizid-Absicht und der Reichtum der um Ajna, die in einem Waisenhaus lebt, konkurrierenden Familie scheinen gegen ihn zu arbeiten. Doch da ist weiter die Männerstimme in S.s Kopf, die ihn leitet, ihm sagt, das sei alles nur der Anfang…
Bei Besuchen im Waisenhaus erklärt Ajna S., sie stehe mit dem Geist ihres toten Vaters in Kontakt; sie bitte den Vater, S. zu helfen.
Tatsächlich hat S. dann wieder in einer brenzligen Situation die Stimme mit einer warnenden Nachricht im Kopf. Er wird in dieser Begegnung zusammengeschlagen, wacht aber in seiner Wohnung auf, wohin ihm ein Unbekannter zurückgeholfen haben muß (= erste Andeutung auf einen weiteren Player).
In der gerichtlichen Anhörung zu Adoption gibt es einen Paukenschlag: mit einem Mal steht ein zuvor völlig unbekannter „Großvater“ Ajnas im Raum und macht seinen vorrangigen Anspruch auf das Mädchen geltend. Dieser Amazuki ist offenbar hochangesehen, reich; man munkelt auch über Mafia-Kontakte. Für S. scheint Ajna nun verloren zu sein. Aber auch die geisterhafte Stimme in seinem Kopf, die zuletzt davon sprach, daß die Entwicklungen nur ein neuer Anfang seien, ist verstummt. S. macht sich zum Aokigahara auf und ruft außer sich die Geister im Wald, speziell Ajnas Vater an: „Vous me devez des explications !“ [Ihr schuldet mir Erklärungen!]
Doch statt Antworten kommt der Diener Amazukis zum Wald, um S. zu einem Treffen mit diesem abzuholen. Und noch einmal wendet sich das Blatt für S.: der reiche „Großvater“, der selbst angibt, eine Tochter verloren zu haben, will S. in seinem riesigen Haus quasi als Hauslehrer für Ajna einquartieren. War Amazuki im Gerichtssaal schroff und abweisend, wandelt sich sein Verhalten nun: er habe eingesehen, Ajna könne nicht ohne S. leben. Daher wolle er S. „adoptieren“ (was in Japan
zur Erbregelung auch bei Erwachsenen gemacht werden kann), ihn fürstlich bezahlen…
S. versteht, daß die Stimme im Geist ihn gewissermaßen leitet. Erstmalig bedankt er sich: „J’espère être digne de votre confiance.“ [Ich hoffe, ich bin Ihres Vertrauens würdig.]
Zwar fragt S. sich ab und an, was das für eine geisterhafte Stimme ist, aber dies wird eher matter-of-factly geschildert: da spricht halt jemand und gibt gute Ratschläge.
Die Autorin baut hier nochmal etwas Spannung auf, bindet auch ein paar Crime-Elemente ein. Wir erfahren: Ajnas Vater Otsuka hat für die Regierung die Tode im Aokigahara untersucht, aber auch das Treiben krimineller Banden, die dort Leichen deponieren, um Morde als Suizide erscheinen zu lassen. Für eine paßwortgeschützte Videoaufnahme, die die Täter zeigt, wird Ajna durch diese entführt, da sie wissen, sie kennt das Paßwort.
(Nebenbei: warum Ajnas Vater die immerhin nur Achtjährige in die Geheimnisse um den Wald einführte und sie auch Bilder von Leichen sehen ließ, ist nicht wirklich schlüssig. Wieso sollte sie auch das Video-Paßwort kennen?)
Die Geisterhafte Stimme „outet“ sich nun als Ajnas Vater und unterstützt S. bei der Suche nach dem Kind.
Parallel hinterfragt eine S. zunächst ablehnend gegenüberstehende Sozialarbeiterin den Hintergrund Amazukis, wobei ihre Kontaktperson nach dem Absenden eines Briefes getötet wird.
Die Bande hat Ajna über S. gefunden – und war vermutlich auch für den Überfall auf ihn verantwortlich.
Erneute Rückkehr in den Aokigahara, wohin Ajna verschleppt wurde. Hier leitet nun der Geist von S.s verstorbener Tochter Atsue ihn zu einer Felsspalte, in die Ajna gestürzt ist. Aus dem in Suizid-Absicht von jemandem hingehängten Seil an einem Baum wird nun das Rettungsseil für Ajna – auch wieder eine schöne Symbolik, die die Autorin einbaut.
Die Geister des Vaters und S.s verstorbener Tochter sind nun zum Teil als durchscheinende Gestalten sichtbar. Es kommt zum schönen Finale: Vater Otsuka vespricht S., in der Welt der Toten auf dessen Tochter Atsue aufzupassen, während er, S., in der Welt der Lebenden sich um seine Tochter Ajna kümmern solle. „Mais on se retrouvera un jour.“ [Eines Tages werden wir uns wiedersehen.]
Zum zweiten Mal werden S. und Ajna von Polizisten aus dem Wald gerettet.
Am Ende wird in der Vierer-Gruppe (Amazuki, Diener, S. und Ajna) noch einmal die Identität Amazukis angesprochen: Ist er der Großvater? S. kennt den Inhalt der Briefes der Sozialarbeiterin, zerreißt diesen aber: was zähle sei: „Wir“ seien jetzt eine echte Familie.
Man kann also vermuten, daß Amazuki jener Freund von Ajnas Vater ist, den dieser über seine Erkenntnisse und die Bedrohung durch die Kriminellen gewarnt hatte – aber vermutlich nicht der echte Großvater. Somit war wohl auch der unbekannte Helfer S.s, als er überfallen wurde, Amazukis Diener.
Alles in allem eine einfache Geschichte – vom Tellerwäscher, äh, ja… Das kann ein Kritikpunkt sein: es ist alles zu gut, zu einfach, zu strahlend dargestellt.
Geister sind hier real, sichtbar, hörbar. Sie interagieren mit der Welt der Lebenden, aber in positiver Weise. Das scheint mir nicht unbedingt eine typisch japanische Vorstellung von Geistern zu sein.
Sugawaras Weg ist einer der Hoffnung – weg vom Entschluß zur Selbsttötung und hin zur Rettung Ajnas und einem – im Vergleich zum vorherigen – völlig überzogenen Leben(sstandard).
Somit Botschaft der Autorin: Laß dich von einem „guten Geist“ leiten – zieh dich mit Hilfe anderer aus der schlechten Situation heraus. Kein Roman, für den es literarische Preise geben wird, aber eine gute Unterhaltung.
Letztlich ist da auch die Übereinstimmung mit dem Film The Sea of Trees, in dem es heißt, im Aokigahara seien einem die Verstorbenen der eigenen Familie nah.
[Die Fotos auf diesen Seiten zum Aokigahara-jukai stammen aus einem Waldgebiet, das mir als sehr ähnlich (optisch, nicht zwingend die Flora betreffend) erscheint: dem Anaga-Gebirge auf Teneriffa.]