Aokigahara (6) – Suicide Forest (Roman)

Trigger-Warnung! Der Text behandelt das Thema Suizid/Selbsttötung. Wenn das für Dich ein Problem ist: bitte nicht lesen!
Hier gibt es eine Vorbemerkung zu diesen Texten.

Das folgende Buch ist ein Roman, der im japanischen Wald Aokigahara jukai spielt. Die Besprechung spoilert den Text.

Der 1978 geborene Autor Jeremy Bates ist ein Vielschreiber, bei dessen beiden Hauptserien (World‘s Scariest Places / World‘s Scariest Legends) man schon kritisch fragen möchte, wie originell er ist. Offenbar arbeitet er sich an diesen Orten und Legenden ab, die er eben mit eigenen Geschichten ausgestaltet, interpretiert. Erster Roman zu den „Places“ ist Suicide Forest. In der Wikipedia wird erwähnt, daß er „typically explores the darker side of human nature. His work is rich in atmosphere and sensory details.“

Das stimmt, dies ist ein dunkler, tragischer Roman mit bitterem Ende. Ich wollte den Text (nach dem Lesen ca. 2019) jetzt nur nochmal schnell für diesen Beitrag durchgehen – und schon war ich wieder drin und las ein zweites Mal. Ich würde es so ausdrücken, daß Bates für jedes kleine Nebendetail mal eben eine kurze Geschichte von 20 Zeilen aus dem Ärmel schüttelt. Das wirkt alles rund, durchdacht, gut verknüpft – bis es zu gut und dann eher „over the top“ wird.
Ob ich also
mit dem Roman, der zu über 95%, würde ich sagen, im Aokigahara spielt, zufrieden bin, ist eine andere Frage. Natürlich führt Bates alles ins Feld, was man mit dem Wald verbindet. Die Geschichte nimmt dann eine Wendung in Richtung Geister, die im Wald sind, um letztlich aber zu einer vielleicht etwas hanebüchenen und nüchternen Wendung zu kommen, die eher in Richtung Krimi geht.

Das Setting wäre dabei passend für jede Form von Slasher-Film: ein israelisches Paar (Ben und Nina) trifft eine Gruppe Ex-Pats, die als Lehrer in Japan arbeiten + deren Fahrer: Tomo, John Scott, Neil, unseren Ich-Erzähler Ethan und Freundin Mel. Da man wegen schlechtem Wetter den Fuji nicht besteigen kann,  vereinbart man eine Wanderung mit Zelt-Übernachtung im Jukai. „Camping in a haunted forest sounds sick.“

Bates schafft es gut, die besondere Stimmung im Wald wiederzugeben:

„The variety of evergreen conifers and broadleaf deciduous trees grew too close together, bleeding into one another, confusing your eyes and creating the illusion of impassable vegetation.“

Die Gruppe dringt tiefer in den Wald ein, wundert sich über die Stille, die fehlende Geräusche von Tieren. Der Erzähler fühlt sich beobachtet – „And still there were no animals, no wind just the trees and us in this … crypt.“

Man trennt sich kurz auf; das israelische Paar und der Ex-Militär John Scott wollen nach ‚bodies‘ zu suchen.

Der Autor schafft es perfekt, die Stimmung im Wald mit dem psychischen Ballast der Gruppenmitglieder zu arrangieren, so als würde dieser besondere Ort die Bühne dafür bilden, daß Altes, Unangenehmes, Belastendes in besonderer Weise hochkommen kann.
Dies betrifft v.a. partnerschaftliche Aspekte der Personen Ethan, Mel, John Scott, Ben und Nina – so im Sinne von: Fremdgehen, Eifersucht, Flirt, Lügen. Sehr unpassend finde ich den Sex zwischen Ethan und Mel angesichts der bis dato geschehenen Dinge.
Weiterhin betrifft es Erinnerungen an den Suizid naher Personen, was Ethan (und Ben) angeht. Sehr gut kann Bates formulieren, wie das plötzlich und intensiviert hochkommt.

„The perfect place to die. The longer I was in Aokigahara, the more I believed this statement to be true. Despite the pervasive atmosphere of death and struggle and sadness, you felt cocooned here, isolated from the outside world.“

Dann „muß“ Bates natürlich die typischen Dinge in den Text einflechten: Fund von Frauensachen, des ‚Suicide Manuals‘, Fund einer Leiche. Dazu ein bißchen Action: Mel fällt in eine Felsspalte, wird gerettet.
Die mysteriösen Dinge, die Bates im Folgenden einbaut, sind gut bis unglaubwürdig. Gut: der geisthafte Schatten auf einem aufgenommenen Foto, die an Bäumen hängenden Kreuze, der „banshee cry“ in der Nacht. Schlecht, unglaubwürdig der Anruf auf Ethan’s Handy mit unterdrückter Nummer: „Why you in my forest?“, fragt ein kratzige Stimme.

Ganz klar: an dem Punkt war für mich viel der Immersion weg. Bei 70% des Buches wird das von Ethan auch in diesem Sinne formuliert: „Somebody was in Suicide Forest with us, stalking us, somebody we didn’t know anything about.“

Nächste Eskalationsstufe: Ben wird am Morgen erhängt aufgefunden; in seinem Rucksack findet man das Suicide Manual. Offenbar hat er ein latentes Vorhaben nach dem Konsum von durch John Scott ausgegebener psychoaktiver Pilze umgesetzt; Streit in der Gruppe.
Bates kann aber aus so einer scheinbar klaren Situation wieder mit Erzählgeschick eine neue Entwicklung starten: Nina belegt mit ihrer eigenen dramatischen Geschichte, daß Ben sich nicht umgebracht haben kann: er muß ermordet, gehängt worden sein.

Am nächsten Morgen findet man Tomo erhängt, aber da Ben und er Schwellungen am Kopf haben, vermutet Ethan, beide seien zuvor mit einer Art Keule niedergeschlagen, dann aufgehängt worden. Er verdächtigt John Scott. Das ist ein bißchen weiter hergeholt in dieser bildhaften, kreativen Art des Schreibens. Vielleicht ist Bates da übers Ziel hinausgeschossen.

Dann sind da auch so unlogische Passagen: John Scott will auf eine Fichte klettern, um sich umschauen zu können. Er stürzt ab und verletzt sein Bein so schwer, daß er nicht mehr gehfähig ist. Kurze Zeit spät beschließt Ethan, den gleichen Baum hinaufzuklettern… Is klar…

Die Gruppe „zerlegt“ sich mehr und mehr: John Scott schwer verletzt; Neil hat eine Art Lebensmittelvergiftung, ist auch nicht mehr gehfähig; dazu die beiden Toten, die auf Tragen mitgenommen werden sollen. Man entscheidet, Neil zurückzulassen, nur John Scott auf einer Trage mitzunehmen, und für ersteren Hilfe zu organisieren.

Ethan, Mel und Nina gehen nach der Entdeckung eines Feuers davon aus, daß ein (menschlicher) Mörder mit ihnen im Wald ist. Doch der Autor kann auch hier die Erzählschraube weiterdrehen: schnell präsentiert er ein bleiches androgynes Gesicht mit schwarzen Augen – und Nina wird verschleppt. Ein unheimliche Stimme ruft: „You in my foresssstttt. You dieeeeeeeee.“ Hier mußte ich so ein bißchen schmunzeln: Hat sich Gollum ein geisterhaftes Imperium im Aokigahara aufgebaut? 😂

Doch das paßt zu den restlichen 18% des Textes ab hier: Die Lösung für die Ereignisse ist recht einfach. Nachdem Mel von einer Gruppe mysteriöser grau gekleideter junger Gestalten angegriffen worden war, finden sie und Ethan Zuflucht bei einem ähnlich fragwürdigen „Ranger“, der mitten im Wald in einer kleinen Hütte lebt – und offenbar in die Vorgänge verwickelt ist.

Dieser erklärt das Thema „ubasute“ (s. Einleitung) und verknüpft es mit der ziemlich abgehobenen Hintergrundgeschichte der gesamten Ereignisse über eine Kollaboration zwischen dem Ranger und einem als Kind ausgesetzten Mann, der nun Frauen im Wald gefangennimmt, Kinder mit ihnen zeugt, wovon nur die Jungs überleben dürfen. Für seine Hilfe erhält der Ranger Schmuck, Geld, Handys der Toten.

Das Finale ist auf der einen Seite überzogen, gleichzeitig platt, aber doch noch ein bißchen gewürzt mit Ethan’s Traum vom toten Bruder, der ihm sagt: du mußt jetzt aufwachen, Mel retten. Es kommt zum Showdown – Ethan, Mel, Nina, der wieder agile John Scott gegen Akira, den Anführer  der Bande.

Wer bei 98% meint, das war es nun, wird vom Autor noch einmal eines Besseren belehrt: trotz Ausschaltens des größten Serienkillers, den Japan je hatte, sind die offiziellen Stellen kritisch bis abweisend, halten die vier Überlebenden zwei Wochen in Gewahrsam.  Zurück in den USA bringt Mels Mutter sich um, ja – und dann zuletzt auch noch (die von Ethan schwangere) Mel. Das war für mich dann doch zuviel Achterbahnfahrt, zu grelle Erzähltechnik.

Bates ist zweifellos ein brillanter Erzähler mit einem mitreißenden Schreibstil. Ob aber der erkennbare Vorsatz, alle Zutaten zum Thema „beängstigendste Orte der Welt“ zusammenzukratzen und mit viel Herzschmerz und  Tragik zu vermischen, sinnvoll ist, will ich nach der Lektüre anzweifeln. Bestes Beispiel: Sex mußte mit in den Text rein, also kurzer „Suicide Fick“ mitten im Wald – unpassend. Wenn man zu dick aufträgt, wirkt es halt unglaubwürdig.

Ich habe die ganze Zeit nach einem Bild (jenseits ‚Achterbahnfahrt‘) für Bates Roman, Schreibstil, Themenauswahl gesucht. Da fiel mir die Deko aus dem Kulttempel vom vergangenen Wochenende ein (80s Party nach dem The Beauty of Gemina Konzert): auf einem ca. 7m langen Plakat am Geländer der Bühne war eine Collage zum Thema 80er zu sehen: Fotos, Zitate, Zeitungsausschnitte, Magazin-Titelseiten.
Dieser Roman fühlt sich eben wie eine solche Collage an. Und der Aokigahara wird damit degradiert zur Bühne, letztlich einem austauschbaren Hintergrund. Das ist schade, auch wenn ich das Lesen genossen habe.

Dennoch möchte ich den Roman empfehlen, weil er es schafft, die beklemmende Stimmung gut wiederzugeben.

 

[Die Fotos auf diesen Seiten zum Aokigahara-jukai stammen aus einem Waldgebiet, das mir als sehr ähnlich (vom Eindruck, nicht zwingend der Flora) erscheint: dem Anaga-Gebirge auf Teneriffa.]

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