Das Carlswerk Victoria im Kölner Nordosten ist eine nette Location, die ich nun erstmals erleben durfte. Riesiges Parkhaus um die Ecke, schnelle Ein- und Ausfahrt durch Online-Bezahlmöglichkeit. Kurze Einlaßkontrolle, Kartencheck – und schon waren wir drin. Im (unbeheizten) Vorbereich zwei Buden, Garderobe und Toiletten, dann die eigentliche große Konzerthalle, die schon eine ordentliche Größe aufweist, aber eben auch deutlich länger als breit ist, so daß sich das Publikum vor der Bühne eher staut. Catering hinten und an der rechten Seite – schnell und professionell, soweit ich das gesehen habe.

Pünktlich startete der Support Act „Straight Razor“. Was schreibe ich? *hust* Also gut, dieses Duo war für mich – persönlich! – die fadeste Vorband seit ewigen Zeiten. Wer „humpa-humpa“-Electro macht, muß sich m.E. auf der Sänger-Seite abheben, z.B. durch eine besondere Stimme, durch eine Persönlichkeit, die auf der Bühne sichtbar wird. Das hat „Omar Doom“ nicht – da springt bei mir kein Funke über. Er wirkt steif auf der Bühne. Somit reiht sich das Project für mich in die typische „just another electro act“-Reihe ein. Gut, „Misery“ war OK. Ich glaube, ich war nicht der einzige, der so dachte, denn als Omar fragte, ob man denn schon bereit sei für VNV Nation, kam der intensivste Applaus seines Gigs auf.
Kurze Wartezeit, dann Ronan und seine Truppe. Die Setlist kann hier eingesehen werden. Los ging es mit dem langsamen Song „Save me“, ein neuer von der kommenden Veröffentlichung „Construct – Deconstruct“. Sehr schön. Aber der nächste neue Song, „Silence speaks“, hat mir noch besser gefallen, vor allem wegen des Themas: die Stille, die uns soviel zu sagen hat, obwohl sie nicht spricht – eigentlich. Darüber werde ich nach Erscheinen des Albums einen eigenen Beitrag schreiben.
Es folgte dann ein Rundumschlag durch das ältere wie neuere Repertoire. Bei „Legion“ wurden meine Augen wieder einmal feucht, weil ich mich an die legendäre Aufnahme beim 2000er Mera Luna erinnert habe – und jetzt stehe ich 25 Jahre später hier – ein Drittel Menschenleben später irgendwie.

„Honour“ wieder dabei – das Publikum schreit „I HATE WAR“ laut mit. Dann: „Lights go out“, mein Favorit von ‚Noire‘.
Aber bei Ronan ist es mit dem Mitsingen oft schwierig, weil er die Texte nicht einfach so runtersingt, wie man sie aus den Aufnahmen kennt. Er gestaltet die Tempi eigenwillig, ändert teilweise die Melodieführung etwas – oder kommt außer Atem, pausiert, was an diesem Abend kaum der Fall war, aber bei früheren Konzerten ab und an ziemlich kraß war.
Erste Zugabe sehr, sehr emotional mit „The Game“, „Gratitude“ und dem dritten neuen Song: „Close to Heaven“.
Nach erneuter kurzer Pause folgten dann die beiden Songs, ohne die ein VNV-Nation-Konzert gar nicht geht: „Illusion“ und „Nova“ – und dann zum Abschluß wieder „All Our Sins“.
Das Filmen und Fotografieren während des Konzerts war ein riesiges, fast schon zu dominantes Thema für Ronan. Man – auch Herr Harris – dreht die Zeit nicht zurück. Es ist ein Kampf gegen Windmühlen: ja, man kann ständig darauf hinweisen, daß einen als Künstler das Filmen und Blitzen nervt, aber irgendwie muß man das auch akzeptieren. Und ja, ich finde es als ein Mensch im Publikum auch toll, wenn ich aus der 50sten Reihe nicht die kleine Figur des Sängers zwischen Dutzenden Handys suchen muß.

Nach der letzten Zugabe stand Ronan noch länger allein auf der Bühne und interagierte mit dem Publikum. So sagte er, allen Globalisten bzw. Assimilationsforderern wohl ein Dorn im Auge, er lebe zwar so lange und gut in Deutschland, aber er habe ja irisches Blut – er bleibe immer Ire. Dafür wurde er sichtbar gefeiert, auch als er seinen Namen auf Irisch sagte und den Menschen in dieser Sprache eine gute Heimreise wünschte. Botschaft: man kann auf dem globalen Parkett agieren, aber man sollte wissen, wo man herkommt. (Gern mal hören, falls nicht bekannt: Peter Sarstedt – Where do you go to, my lovely?)
Das ist für mich das Phänomen VNV Nation – um den Bogen zurück zum Anfang zu spannen: Ronan ist eben er selbst – und dafür – für sein So-Sein – wird er von den Fans geliebt. Er agiert souverän, z.B. wenn er jemanden, den er wegen Blitzlicht schon „ermahnt“ hatte, dann als „Depp“ bezeichnet. Aber vor allem spürt man das Herzblut, das in diese Live-Performances fließt: Ronan spricht es immer wieder an: hört auf, die Musik zu konservieren, feiert hier und heute abend mit mir. Wörtlich: „Wir sind keine Swifties.“ Die Erinnerungen morgen früh sind viel schöner als der kurze Video-Clip, den du aufgezeichnet hast.
Noch kurz zum Publikum: da waren kaum junge Leute so zwischen 20 und 25 anwesend. Ist VNV Nation jetzt Alte-Leute-Musik? Schwarzer Schlager für Prä-Demente? Wenn DU das hier liest und um die 20 bist: magst du VNV Nation? Was hörst du an schwarzer Musik? Schreib mir gern einen Kommentar!

Es sollten auch noch die großartigen Gesten von Ronan erwähnt werden. Ich selber stand unmittelbar vor der Bühne und habe diese überwältigt wahrgenommen. Links neben der Bühne war ein abgesperrter Bereich in dem sich die Zuschauer mit körperlichen Einschränkungen aufgehalten haben. Ronan hat diese recht schnell wahrgenommen und ist auch zu ihnen heruntergegangen. Zum Ende des Konzerts hat er seinem Drummer gesagt das er seine Drumsticks zu diesen Zuschauer bringen möchte. Des Weiteren sagte er ja noch das für ihn die Zuschauer mit körperlichen Einschränkungen an erster Stelle, die mit Kindern an zweiter und alle anderen Zuschauer an dritter Stelle stehen. Diese feinen Gesten, Aussagen habe ich als nicht alltäglich und besonders wahrgenommen und als positiven Gedanken mit nach Hause genommen.
Hi Oliver,
stimmt, das habe ich nicht erwähnt. Aber warum? Ich will es mal versuchen zu erklären:
Ich arbeite selbst im Sozialbereich. Vor etlichen Jahren wollte man Menschen mit Behinderungen besser integrieren, „Integration“ war das Stichwort. Das reichte dann irgendwie nicht mehr aus, also mußte „Inklusion“ her. Wenn man das zu Ende denkt, werden die Unterschiede zwischen Menschen mit Behinderungen und solchen ohne verschwinden. Wir würden dann in einer Welt leben, wo alle gleich sind (in der Theorie).
Aus diesem Blickwinkel baut Ronan wieder Grenzen auf, wenn er unterschiedliche Personengruppen besonders hervorhebt. So waren m.E. wenige Eltern mit Kindern da. Neben mir stand ein ca. 11-/12-jähriges Mädchen, das mega-gelangweilt war. Natürlich sind Kinder „unsere Zukunft“, auch die Zukunft der Szene, aber das ist doch auch so ein Allgemeinplatz. 99% der Anwesenden waren keine Kinder, von daher müßte man das nicht extra erwähnen. Dann ist mir ein wenig aufgestoßen, wie er an dritter Stelle „all you wonderful people“ erwähnte, also diese 99% Rest, die Mehrheit. Damit sind – hart ausgedrückt – weder Behinderte noch Kinder „wonderful people“. Soll heißen, mit solchen Aussagen bewegt man sich schnell auf Glatteis, auch wenn Ronan das ganz sicher so nicht gemeint hat.
Er hat, aus irgendeinem Grund, immer ein Auge auf die Menschen mit Behinderungen, die seine Konzerte besuchen. Und ja, das macht ihn sympathisch, daß er in deren Richtung etwas sagt, aber es läuft einer gesellschaftlichen Tendenz zuwider, Unterschiede nicht mehr zu benennen. Ich erlebe es gerade bei Menschen, die nicht im Sozial-/Gesundheitsbereich arbeiten, daß sie an alten Konzepten festhalten, so à la: „Das ist ein Behinderter, der braucht Hilfe.“ Ich erlebe selbst immer wieder Situationen, in denen ich einem Menschen mit Behinderung Hilfe anbiete, dies aber (z.T. brüsk) abgelehnt wird: „Ich komme schon zurecht.“ Das hat auch viel mit „empowerment“ zu tun, damit, daß behinderte Menschen sich heute als stark und autark erleben können, z.B. weil es die Selbständigkeit fördernde Wohnangebote gibt.
Letztlich ist selbst der Begriff „Behinderte“ so einer Umformung unterworfen: Früher gingen Menschen in eine „Behindertenwerkstatt“, daraus wurde dann eine „Werkstatt für Menschen mit Behinderungen“, und heute spricht man eher von Beeinträchtigungen.
Mich hat diese Dreier-Abstufung „Behinderte – Eltern/Kinder – all you wonderful people“ nicht so ‚abgeholt‘, daher habe ich das im Bericht ausgelassen.
Liebe Grüße,
Rush