500000 vor ihrem PC sind keine Szene

Die Überschrift ist ein Zitat von Steve aus dem Podcast „SchwarzGesagt„. In den letzten Tagen habe ich einige Folgen „nachgehört“, so auch die eigentlich ausgelassenen zum Thema Gothic Family. Toll, was ihr da auf die Beine stellt, Gatto Nero & Steve!

Das Zitat stammt aber aus einer der Folgen „extrem und tanzbar“, wo sich eine Hörerin in einer Einspielung darüber beschwert, was sie jenseits des dunklen, privaten Lebensstils dann auf Festivals vorfindet: wenig Tiefe, viel Party.
Und dabei dann (zunehmend?) rücksichtslose Menschen, die bei leisen Titeln einfach laut weiterreden, die alles filmen oder während des Konzerts mit fünf Bieren in die erste Reihe „müssen“.

Ich erlebe das ähnlich und frage mich eben auch: ist das so im letzten Jahrzehnt schlimmer geworden? Vielleicht muß man das multifaktoriell angehen: Person / Smartphone / Gesellschaft oder so. Die Smartphones sind nicht mehr wegzudenken – und wer filmen kann, der macht’s. Das wiederum hat mit Selbstdisziplin und Höflichkeit zu tun. Diese beiden Werte sind aktuell nicht mehr so „in“, so erlebe ich das. Ich nehme Menschen zunehmend als auf sich fokussiert, egozentrisch, den eigenen Vorteil sehend wahr – aber auch andere ausblendend (und das nicht immer gleich mit böser Absicht). „Ich mach mein Ding“ – das ist so ein Credo. Was trägt die Gesellschaft dazu bei? Nun ja, die Spaltung der Gesellschaft hat sich mit dem Ausdünnen der Mittelschicht verstärkt: den über 200 Milliardären in D stehen die Bürgergeld-Dauerbezieher und Tafel-Klienten gegenüber. Ein Freund bestätigte neulich meine Wahrnehmung: Corona hat Familien am „Pro/Kontra Impfung“ gesprengt, Freundschaften beerdigt. Dann der Krieg in der Ukraine, der Menschen stark verunsichert, mit all der Kriegshetze auf beiden Seiten und der Unfähigkeit, gerade der deutschen Regierung, sich über US-Wünsche hinwegzusetzen und z.B. monatlich einen Vermittler zu Putin zu fliegen. Man muß reden, nicht noch mehr Waffen liefern und junge Männer verrecken lassen.

Der Wind weht steifer, was vor dem Hintergrund des den Menschen über Jahrzehnte eingetrichterten Egoismus („Mach dein Ding“, „Du bist dein Chef“, „Ich muß gar nichts“…) möglicherweise dazu führt, daß Personen sich verstärkt von Kollektiven abkoppeln, ihre Mitmenschen ausblenden und mit einer „Leck-mich-am-Arsch“-Haltung durchs Leben (und über Festival-Plätze) ziehen.
Und dann hat es meiner Meinung nach auch mit Erziehung und Anstand zu tun. Meine Söhne siezen ältere Menschen, sind höflich, fragen um Erlaubnis usw. Das ist in dieser Gesellschaft in 2024 nicht mehr Standard.

Doch am meisten blieb Steves Zitat von den 500000 vor dem PC und ihrer Spotify-Playlist bei mir hängen, die eben keine Szene sind. Szene, das seien persönliche Treffen.
Ist das denn so?

Als das Internet „salonfähig“ wurde, verlagerte man persönliche Treffen in den virtuellen Raum. Ich erinnere mich an die „Mailboxen„, die ich in der ersten Hälfte der 90er mit einem Modem anwählte. Dann kamen die großen Konzerne wie AOL und Compuserve – ich war bei letzterem mit einem Account, der mir 1995 sagenhafte 2MB (!) Webspace für eine Homepage bot. Das Usenet war der „letzte heiße Scheiß“ (de.soc.subkultur.gothic!), und parallel entstanden die Mailinglisten, wo man sich traf, um über seine auch spezielleren Themen zu diskutieren. Und ICQ – wie habe ich das geliebt! Die Mailinglisten wurden von Foren abgelöst – und die „große Zeit der Foren“ von WKW und Facebook… TikTok trifft mit (für mich) hektischem Content wohl die Bedürfnisse der Generation Z: TikTok setzt, anders als Instagram und YouTube, auf Authentizität, die Videos sind von echten Menschen, für echte Menschen. Dies kommt vor allem bei der Generation Z, den unter 25-jährigen, gut an. (wix.com)

„Echte“ Menschen treffen sich „virtuell“. Jein, das kann man so nicht stehenlassen, denn im virtuellen Raum ist es immer mein Avatar, der andere trifft. „Rush“ ist nicht Volker, und der Nickname, den ich von 1995 bis ca. 2010 nutzte, war nicht Volker (Hell, selbst der Volker im dienstlichen Meeting ist nicht Volker). Aber dennoch tendiere ich dazu, auch vor dem Hintergrund des Themas Cyberpunk, die virtuellen Räume (fast) gleichwertig neben den „realen meeting space“ zu stellen. Dazu muß man schauen, was die Kernpunkte sind, die beide Welten unterscheiden: das ist m.E. der persönliche, also physische Kontakt. Wenn man nebeneinander steht und spricht, ist das wie gemeinsam im Chatraum sein, aber mit allen Empfindungen, die der reale Kontakt bietet.
Ich verweise in dem Zusammenhang immer wieder auf den faszinierenden Roman Killobyte von Piers Anthony, der virtuelle Welten beschreibt, in die man mittels Ganzkörperanzügen eintauchen kann. In 3D werden Emotionen, Empfindungen usw. vermittelt, bis hin zu Sex und Tod. Jeder Tod in der virtuellen Welt wird für den „Anzugträger“ unangenehmer… Das im Roman Dargestellte ist vielleicht in 100 Jahren real, aber der Weg wurde bereits eingeschlagen…

Will heißen: Für mich ist das reale Treffen von Menschen – vielleicht auch wegen meiner Netzaffinität – nur noch eine Möglichkeit, um mit anderen zu interagieren. Gleichzeitig bin ich mir bewußt, daß ich ohne Facebook-Account heute viele szene-relevante Dinge / Ereignisse / Termine nicht mitbekomme. Hier denke ich an die Corona-Streamings zurück, wo ein DJ z.B. über Twitch Musik streamte, während die anwesenden Zuhörer miteinander chatten konnten. Solche Events fehlen – oder ich weiß nichts von ihrer Existenz. Spannend fände ich, wenn eine konkrete Disco-Veranstaltung im Club XY gleichzeitig live gestreamt würde, mit Interaktionsmöglichkeiten für die Zuhörer.

Ich kann mir vorstellen, wie sich mancher jetzt die Haare rauft und sagt: „Rush, Alter, das ist doch nicht das GLEICHE. Tanzen gehen, schwitzen, präsent sein, Körperkontakt, „zu mir oder zu dir?“ – all das hast du vor deinem PC nicht.“
Jep, stimmt. Es ist nicht gleichwertig, aber, um das mit den 500000 aufzugreifen, ich meine eben, daß Szene längst nicht mehr nur vor Ort stattfindet, sondern eben auch in virtuellen Räumen. Je interaktiver und „echter“ sich die virtuellen Räume entwickeln, desto mehr kratzen sie am „Old-School-Treffen“.

Das ist eine m.E. strukturelle Veränderung, die in keiner Weise nur die Schwarze Szene betrifft. Sie setzt beim menschlichen Kontaktverhalten an und bietet diesem neue Optionen. Und wer introvertiert, zurückgezogen lebt, oder einfach schüchtern ist, findet vielleicht Erfüllung in diesen virtuellen Räumen von einfachsten „Schwarzen Brettern“ zum Info-Austausch, über Foren hin zu Chaträumen und Video-Chats.

Ich muß zugeben, daß das für mich eine große Faszination ausübt, weil ich starke misanthropische Anteile habe und bei dem, was ich oben schrieb, gleich denke: Mußte ja so kommen, hab ich euch doch gesagt… 😉
Beispiel, etwas weiter ausgegriffen: Telefonsex. Fand ich immer spannend, obwohl ich genügend Leute kenne, die sagen: entweder Ringelpiez mit anfassen oder gar nicht… Vielleicht treffen die Internet-Entwicklungen bei manchen auf eine Sehnsucht, da sie erlauben, Persönlichkeitsanteile auf einen Avatar auszulagern und in geschützten Räumen unterwegs zu sein.

Aber dann muß noch gefragt werden: was konstituiert eine Szene? Und hier meine ich, Steve widersprechen zu können: die 500000 „Schwarzen“ mit ihrem typischen Lebensstil, ihrer Lektüre, den Filmen und Serien, die sie mögen, den Spaziergängen über alte Friedhöfe usw., die sind Szene. Weil ich Szene nicht so definiere, daß das nur die Leute sind, die so und so oft im „real life“ an bestimmten Orten auftauchen.
Es ist also der Szenebegriff, der zählt, und den ich weiter fassen würde. Vielleicht muß man dann eher sagen: „die Schwarze Szene vor Ort“, wenn man die Leute meint, die lokale Veranstaltungen besuchen. Deswegen sagt man ja auch, daß „die Schwarze Szene in Leipzig“ eine andere ist als die in Köln oder Bremen.

(Nachtrag – Zeitfaktor: Wann entsteht „Szene“? Wie oft müssen sich Menschen am Ort XY treffen, damit man von einer Szene sprechen kann? Wie oft muß der Einzelne an diesem Ort sein, um als Teil dieser Szene angesehen zu werden? Ich bin z.B. drei- oder viermal im Jahr im Kulttempel in Oberhausen: bin ich daher Teil der Kulttempel-Szene oder reicht das noch nicht aus? Letztlich glaube ich, daß „Szene“ nicht meßbar ist, sondern sich über persönliches Empfinden und die Fremdeinschätzung definiert. „Der ist neu, ist nicht Szene!“ – Aber wenn der dann am PC sitzt – ist er Szene?)

Ich glaube also, daß die „Digital Evolution“ nachhaltig verändern wird, wie wir Menschen interagieren. Damit wird m.E. der alte Szenebegriff verändert – zum Positiven oder Negativen, je nachdem, wo man steht. Wenn der Schwarzen Szene etwas fehlt, dann ist das aus meiner Sicht so ein „All-In-Portal“, wie die BDSM-Szene es z.B. mit der Sklavenzentrale hat: Privat-Nachrichten, Chats, Foren, Galerien, Terminübersichten, lokale Gruppen – was will man mehr!?

Und so bin ich gern einer der 500000, aber genauso gern live an einem Ort mit anderen Menschen. Doch je mehr die virtuellen Welten bieten können (von Interaktion per geschriebenem Text über Voice Chats zu Video Chats zu ?), desto mehr löse ich mich von „real-life“-Treffen ab. Rush out.

Nachtrag: Am Tag der Veröffentlichung dieses Beitrags spielten Qntal im Kulttempel in Oberhausen. Kurz nach 22 Uhr informierte mich die Insta-App, daß der Kulttempel jetzt mit einem Video online sei. Ich schaute rein und durfte live eine sehr schöne und langsame Version von Don’t fear the Reaper miterleben. Genau das meinte ich! In dem Moment fühlte ich mich mit all denen vereint, die da live vor der Bühne standen.

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