Martin Sprissler hat im Winter 22/23 Abschied genommen von seinem Projekt GOTHIC Magazine, und dabei in den Ausgaben 90 und 91 Weggefährten aus der Szene zu Wort kommen lassen. Ich möchte einige Aussagen aufgreifen und kommentieren. Zunächst fasse ich anhand von Stichworten zusammen.
Bei all dem ist es mir wichtig zu sagen, daß ich in keiner Weise für “die Szene” spreche. Alles ist meine persönliche Auffassung zum Thema.
“Spaßgesellschaft” / “Mega-Events”:
Johannes Berthold von Illuminate meint, die Szene habe “sich in den letzten 10 bis 15 Jahren immer mehr einer Spaß- und Konsumgesellschaft angenähert (…). Der Wunsch nach tiefgründigen Inhalten in Musik und Kunst ist dem ‚Abtanzen‘ und dem reinen ‚Abfeiern‘ gewichen; intime Konzerterlebnisse mit interessanten und auch unbekannteren Bands wurden gegen drei, vier Mega-Events und Festivals im Jahr mit stets gleichbleibendem Line-Up getauscht.“
Ecki Stieg bringt es so auf den Punkt: “Die großen Festivals und Events haben noch weniger als sonst die Funktion, Musik und Kultur zu vermitteln. Sie sind in erster Linie Treffpunkt für das Feiern eines diffusen Zusammengehörigkeitsgefühls. (…) Auf den nicht gerade preiswerten Festivals liegt nunmehr der alleinige Fokus.”
Meine Einschätzung: Das ist eigentlich ein zu großes Thema, das in einen eigenen Beitrag müßte. Andererseits will ich hier auf politische Statements weitgehend verzichten. Ich verweise auf diesen Beitrag; es ist so, daß ich Menschen – gerade nach der Corona-Zeit – zunehmend in dem Sinne erlebe, daß sie sich auf Privates zurückziehen, gut und gemütlich leben und wenig über Politik reden wollen, sich dafür jedoch bei einem Glas Rotwein gegenseitig bestätigen, wie “gut” man es doch habe – in dieser Familie, in dieser Nachbarschaft, in diesem Sportverein pp. So ist es für mich auch verständlich, wenn die Menschen auf Szene-Events genau dieses Zusammengehörigkeitsgefühl erleben wollen: die Toleranz der Szene, die Lust am Feiern und an guter Musik. Da wird das Festival zu einem Do.-Mo.-Kurzurlaub – aber auf so einem mediokren Level: “Wer schwarz trägt, ist gut, ist mein Freund.” Ja, das ist dieses ‘diffuse Zusammengehörigkeitsgefühl’ – und, das mag man sagen, es ist schön, daß es das doch noch gibt.
Wer andererseits bemängelt, intime Konzerterlebnisse fänden nicht mehr statt, der vergleicht Äpfel mit Birnen. Sie finden statt, aber an anderen Orten und – ich würde das so vermuten – mit anderen Personen, mit einer kleinen Teilmenge dieser Festival-Besucher, die sich tatsächlich noch in Clubs begibt, um solche Konzerte zu erleben. Ich denke da für mich z.B. an eine Nacht im Kulttempel Oberhausen mit Nox Interna und Christian Death – das toppt so manches Festival.
Die zentrale Frage ist natürlich: Wohin entwickelt sich eine “Szene”, wenn sie in den Medien v.a. durch ihre Mega-Festivals bekannt ist? Kann man dann noch von einer Szene sprechen? Für meinen Teil verwende ich Szene eigentlich – und im Widerspruch zur Blog-Domain – eher lokal bis regional: “Die Schwarze Szene in München” oder “Die Schwarze Szene am Niederrhein”. Klar ist: wenn so wenig junge Leute nachrücken wie in den letzten 20 Jahren, wird es in den nächsten 10, 15 Jahren kaum noch Clubs geben, die sich ausschließlich auf die Schwarze Szene fokussieren, weil sie sich nicht mehr finanzieren können. Dann ist man in ‘Event-Restaurants’, die auch mal einen ‘schwarzen Abend’ anbieten, online bei Facebook, Insta-Broadcasts, Twitch-Streams, vielleicht noch ein paar Foren für die Älteren – und eben den großen Festivals. Nicht schön, aber m.E. der nicht mehr in grundsätzlicher Richtung veränderbare Weg.
Bleibt also nur der Aufruf, die lokalen Clubs zu unterstützen, aber… (s. nächster Abschnitt)
“Überalterung” / “Bürgerlichkeit”:
Rod Usher, The Other, sieht in einer “überalterten Gothic-Szene (…) eine immer größere Tendenz zu Bürgerlichkeit und Stammtisch-Mentalität (…)
Oder Thomas van de Scheck: “Die Szene ist sehr brav und irgendwie auch sehr angepasst geworden. (…) Die Szene sucht nicht mehr nach dem ‚Außergewöhnlichen‘, nach dem ‚Besonderen, mit einem Alleinstellungsmerkmal‘, sondern auch hier nur noch nach ‚Gleichförmigkeit im Einheitsschritt‘.”
Was mehrere Personen benennen, ist die frühere “In-sich-Geschlossenheit” der Szene, deren “elitärer” Charakter, z.T. auch vor dem Hintergrund nur materiell vorhandener Tonträger, wohingegen heute vieles gestreamt werden kann.
Meine Einschätzung: Das mit der Überalterung habe ich hier schon bearbeitet. Um das ‘Aber’ von oben aufzunehmen: Clubs leben von jungen Menschen, die üblicherweise erst kurz vor Mitternacht weggehen. Ich kann für mich ganz offen sagen, daß ich das mit Mitte 50 nicht mehr mache – oder ganz selten. Die Lösung: Eine “Schwarze-Senioren”-Veranstaltung ab 17 Uhr… 🤣 Auch deswegen boomen Festivals, wo man am Vormittag gemütlich anreist – und um 23 Uhr nach Hause “darf”. (Ja, klingt beim Korrekturlesen doof, but you can’t deny it… 😆 )
Meine Theorie: je älter die Menschen in der Szene werden, desto mehr suchen sie nach gemütlichen Outfits (wallende Mittelalter-Gewänder) und ebensolchen, die schick sind (Steampunk, Victorian), um nicht zu weit aus dem Alltag herauszutreten. Wer mit 50 einen teuren Benz fährt, in führender Position in einer großen Firma ist, wird eher nicht mit zerlumpter Kleidung zum Event kommen, sondern schick, um, ja vielleicht um “Status” auch innerhalb der Szene zu zeigen.
Hinzu kommt, daß ich schon von älteren Menschen auf Events gehört habe, man wolle sich “nicht mehr verkleiden” und komme in dezenten grauen und schwarzen Kleidungsstücken. Das sagt natürlich mehr über die Menschen als über die Szene – ja, die Angepaßtheit ist da.
Aber das ‘elitäre Element’ der Schwarzen Szene ist für mich nicht mehr sichtbar, was möglicherweise mit der Veränderung aller Subkulturen/Jugendkulturen zu tun hat. Und wenn schon die Jungen in der Szene nichts mehr ‘zeigen’ müssen, um sich abzugrenzen, wozu sollen die Älteren das tun?
“Schwarzer Mainstream-Schlager”:
Nochmal Rod Usher: “Da werden Retorten-Bands kritiklos konsumiert, wenn nur der Stil stimmt. Da haben manche bekannten Musiker fünf Projekte, die begeistert angenommen werden, während innovative Newcomer mit komplettem Desinteresse rechnen müssen.“
Nochmal Th. van de Scheck: “Hauptsache ‚Schlager mit Herz‘ und gerne mit harten Gitarren. Nur bitte nicht zu anders.”
Meine Einschätzung: JA! Ich habe da so dieses Bild aus Game of Thrones vor Augen: nackt werde ich durch Straßen getrieben, werde mit Schmutz beworfen und alle schreien “Shame, SHAME!” – und das nur, weil ich die neueste Single von Blutegel oder Mini Inc gehört habe… 🤣 Ich bin da seit vielen Jahren hin- und hergerissen. Einerseits finde ich, daß es auch in der schwarzen Szene schöne, eingängige Melodien geben darf (soll), und daß auch Szene-Musiker nach Erfolg im Mainstream suchen dürfen. Andererseits sehe ich nicht, daß es für Newcomer, die es richtig angehen, keine Erfolgsmöglichkeiten gibt – man denke an Lebanon Hannover oder She Past Away. Möglicherweise liegt ein Problem bei Newcomer-Bands auch darin, daß sie zu sehr als Epigonen auftreten und den Sound ihrer Vorbilder kaum verändern. So gerne ich Gothic Rock höre: ich kann die ganzen Sisters-Epigonen nicht mehr hören.
Ich bin auf das Thema ein wenig beim M’era-Luna-Bericht vom Sonntag (2023) eingegangen: She Hates Emotions. Für mich kann ich klar sagen: ja, ich bin auch bereit, nicht so eingängige Musik zu hören (Stichwort – bei den Freunden meiner Frau bin ich bekannt als der, der ‘Beischlaf mit 60kg Hackfleisch‘ mag 🙄 )
Andererseits brauche ich auch die Mitgröl-Lieder, die die Autofahrt zwischen Termin 1 und Termin 2 zu einem kleinen Stück Freizeit (Freiheit) machen. Aktuell ist das z.B. “Watch me die” von Blackcarburning (das ist das Projekt von Mark Hockings, Sänger von Mesh).
Zum Abschluß noch eine Anregung: Statt nur zu streamen, suche ich bei Künstlern, die mir gefallen, erstmal auf Bandcamp, ob man etwas von ihnen kaufen kann. Soweit mir bekannt, verdienen die Künstler daran deutlich mehr als über die Streaming-Aufrufe. (Daß auch Bandcamp kritisch gesehen werden kann, beschreibt dieser lange Artikel.)