Das Gothic Empire hat mit einem Artikel über das von KI erstellte Lied „Legacy of Sorrow“ die Frage angerissen, ob die KI die „Seele der Gothic-Subkultur“ zerstöre.
Dies ist das Lied, um das es geht: Legacy of Sorrow von „Cyber Bard“ (Youtube-Link). In der Video-Beschreibung heißt es: „Witness the end of the world unfold in this AI-generated Gothic Metal music video. Cyber Bard brings you a haunting melody and chilling visuals that depict a dystopian future ravaged by human apathy and environmental destruction.„
Ich habe den Song dann zum ersten Mal gehört – und finde ihn nicht besonders gut, was meinen Geschmack angeht, insbesondere gibt es Gestaltungselemente wie die hauchende Frauenstimme, die mir nicht gefallen. Fakt ist aber, daß man nicht wirklich auf den ersten Blick (beim ersten Hören) erkennen kann, daß das kein Mensch komponiert hat.
Lohnt die Berichterstattung über ein Phänomen, das uns wie die Mobiltelefone überrennen wird!? Schon jetzt nervt es mich ungemein, daß mir Instagram Beiträge/Reels vorschlägt, bei denen ich ständig schauen muß: ist das echt oder KI, insbesondere wenn die Täuschung nicht ganz so offensichtlich ist?
Ich gehe mal auf ein paar der angesprochenen Punkte im o.g. Artikel ein.
KI wird an tausenden von Gothic Songs trainiert:
Das ist kein Argument gegen die KI, denn jedes Musikergehirn wird an ebensolchen tausenden Songs trainiert. Wie anders wäre eine 80s Renaissance (Minimal-Elektronik) möglich, als daß die kreativen Köpfe der neuen Musik die alte im Ohr haben. Warum sind Plagiate auch im Musikbereich so beliebt? Weil Hunderttausende sie in den Ohren haben, und der Plagiator sich entsprechend Erfolg wünscht.
Das KI-geschriebene Lied sei ohne ‚echte‘ Emotionen:
Vielleicht unterscheidet man hier am besten zwischen der kreativen Seite und der rezipierenden. Wenn ich der KI sage, sie soll ein trauriges Lied schreiben, dann kann ich am Ergebnis überprüfen, ob das Lied genauso klingt. Natürlich hat die KI diese Traurigkeit nicht empfunden, aber sie hat sie gemäß der üblichen Worte und Satzstrukturen zusammengereimt, die wir Menschen verwenden. Auf der rezipierenden Seite wird es schwieriger, denn man kann als Zuhörer sehr wohl tiefe Traurigkeit auf der Basis der künstlichen Kombination von Musik und Text empfinden, speziell wenn mich bestimmte Worte triggern, ohne daß das zwingend ein anderer Mensch so empfunden und festgehalten haben muß.
Von daher schlage ich vor, von „echten“ Emotionen zu „menschlichen“ überzugehen. Und ja, hier finde ich, daß von einem Künstler echt empfundene Traurigkeit (um im Beispiel zu bleiben) mir eine Art Mehrwert im Song gibt. Das leitet über zu:
Gothic(-Szene) ist mehr als Musik(, die von KI geschrieben wird):
Das ist der Punkt, an dem es für mich spannend wird. Einerseits sind wir als Menschen schon lange daran gewöhnt, daß Maschinen Dinge für uns erledigen. Das reicht vom summenden Vibrator bis hin zu pfiffigen Maschinen in der industriellen Produktion, die den Menschen schwere Aufgaben abnehmen. Das Ergebnis kann nur auf der Ebene der persönlichen Einschätzung Sinn erhalten.
Ich weise auch darauf hin, daß wir die Diskussion ja früher schon hatten: ist Synthesizer-Musik noch „echte Musik“? Oder gilt das nur für E-Gitarre, Baß und Drums? Ist nur „handgemachte“ Musik gut und echt? Fakt ist, der Schritt vom Samplen und Erschaffen elektronischer Songs hin zu rein KI-generierten ist klein. Ich hatte es zum letztjährigen Amphi schon geschrieben: Künstler, die nur mit Macbook auf die Bühne kommen und dazu singen, erhalten von mir keinen Begeisterungssturm.
Im Artikel wird dann jemand von Nachtgier zitiert, sinngemäß: das Lied ist technisch perfekt, erzählt aber keine Geschichte. Also wohl so gemeint, daß KI zwar schöne Songstrukturen hinkriegt, aber daß es am Sinn des Textes mangelt.
Dazu eine kleine Erfahrung von mir: Als es mit Chat-GPT losging, habe ich mir die App installiert und die KI gefragt, in welchen deutschen Gedichten das Wort ‚Schraubenschlüssel‘ vorkomme. Die Antwort war: Da es sich beim Schraubenschlüssel um ein Werkzeug aus dem Alltagsbereich handele, komme er normalerweise nicht in Gedichten vor.
Gleich fragte die KI, ob sie mir jetzt ein Gedicht über einen Schraubenschlüssel schreiben solle. Ich bejahte das und konnte nicht glauben, in welch kurzer Zeit ein Text mit drei Strophen vor meinen Augen erschien. Sprachlich an zwei, drei Stellen holprig, war doch ein Gedicht mit Sinn entstanden. Sinngemäß: in der Werkstatt liegt der alte, verstaubte Schraubenschlüssel, der einst von ’starker Meisterhand‘ geführt worden war. Nun war der Meister nicht mehr da, und das Werkzeug lag ungebraucht herum. So wünschte sich der Schraubenschlüssel am Ende, daß jemand wieder in die Werkstatt komme, um mit ihm erneut an die Arbeit zu gehen.
Quod erat demonstrandum – KI kann Geschichten erzählen.
(OK, das war vielleicht auch einfach. Ich habe früher mal ein Gedicht mit dem Titel „Abfälle in der Leichenhalle“ geschrieben, wobei die Abfälle nicht die Leichen waren, sondern Mülltüten u.ä. Chat GPT kann zu diesem Titel kein gutes Gedicht schreiben und verliert sich in Worthülsen zu Tod und Vergänglichkeit.)
Was bleibt von der Kritik? Ich will es so formulieren und auf „die Szene“ zurückkommen. Szene – das sind Menschen. Ob diese Menschen nun handgemachte oder von KI geschriebene Musik hören, ist eigentlich egal. Ich könnte mir vorstellen, daß ein KI-Lied eins meiner Lieblingslieder wird, wenn Text und Musik stimmig sind.
Das Argument, daß eben kein echter Künstler mit „tiefen Emotionen“ an diesem Song gewerkelt hat, zählt für mich nicht, denn selbst in der Gothic-Szene gibt es einige Großproduzenten, von denen ich nicht glaube, daß ihr Herzblut in jedem Lied steckt. Gerade im zweiten oder dritten „Side Project“ tröpfelt die Musik so vor sich hin und dient dem einen guten Song der EP als Füllmaterial. Wieviele Schallplatten habe ich in den 80ern gekauft, wenn mir der im Radio auf und ab gespielte Hit gefiel, nur um festzustellen, daß der Rest der Songs medioker ist.
Letztlich muß man sich auch eingestehen, daß eine Zeit kommen wird, in der man nicht mehr sagen kann, was „menschengemacht“ und was von KI produziert ist. Ein Freund meinte neulich dazu sinngemäß: wir alten Säcke können das ja noch ganz gut unterscheiden, aber was ist mit den Kindern, die jetzt heranwachsen? Die kommen in eine Welt mit so vielen künstlichen Elementen, daß sie die echten vielleicht nicht sehen können.
Von daher ist auch der Instagram-Ansatz, mit „KI Info“ etwas zum Einsatz von KI beim konkreten Bild oder Video zu sagen, nur oberflächlich. Irgendwann wird man es nicht mehr wissen. Wer weiß schon, wieviele Gothic Acts ihre aktuellen Songs im Grundgerüst schreiben und dann von KI aufpolieren lassen?
KI ist einfach zu verlockend. Neulich brauchte ich beruflich einen komplizierteren Text mit speziellen Begriffen, über den ich mir natürlich eine Viertelstunde den Kopf hätte zerbrechen können. Chat GPT warf den in unter 2 Sekunden aus…
Was bleibt, ist letztlich „die Szene“ und die Menschen in ihr – bis wir im Cyberpunk-Zeitalter angekommen sind, und uns fragen, wieviel Mensch ist noch da, wenn jemand 20 künstliche Module im Körper verbaut hat.
KI wird uns in den kommenden Jahren mit allem Möglichen überfluten, insbesondere wenn Stargate und Co. realisiert werden und KI immer billiger wird. Im Digitalen wird man Fakten nicht mehr von Fiktion unterscheiden können. Man wird dem Digitalen nicht mehr trauen und es irgendwann ignorieren.
Ich glaube, dass dann eine Renaissance des „Realen“ kommen wird: Zumindest diejenigen, die es sich leisten können, werden eher das authentische Erlebnis verlangen und nicht die KI-generierte digitale Konserve. Also Konzerte long, youtube und Co. short?
Vielleicht liest irgendwann auch keiner Blogs mehr, weil niemand weiß, wer das geschrieben hat (KI oder Mensch) und man trifft sich wieder in der Kneipe auf ein Bier oder im Verein? Wäre das so schlecht?
Hallo Michael,
eine „Renaissance des Realen“ klingt gut. Erinnert mich auch ein wenig an das, was ich im privaten Umfeld erlebe, nämlich einen Rückzug in Private, weil die Gesellschaft zu kompliziert und anstrengend wird. Treffen im kleinen Kreis, Vermeidung von Gesprächen über Politik oder soziale Mißstände.
Die Auswirkungen von KI habe ich ja auch kurz angerissen: mich nervt das auf Instagram, wenn mir „komische“ Reels vorgeschlagen werden, bei denen ich z.T. wirklich genau schauen muß, ob das „echt“ ist.
Und ja, das betrifft natürlich auch Blogs und das, was hier geschrieben wird. Bei mir noch alles „hand-crafted“, aber ich kenne einen jungen Mann, der sagt, er schreibe keine E-Mail mehr selbst, das mache jetzt alles die Premium-Version von Chat GPT.
Warten wir’s ab, aber je komplizierter die Online-Welt wird, je undurchschaubarer (weniger verstehbar), desto eher kommt dieser Rückzug auf’s Private bzw. die Rückbesinnung auf „Reales“.