Wie beginne ich, über diesen Roman zu schreiben? Schreibe ich zuerst, wie er mir noch lange nach dem Beenden im Magen lag? Wie ich Erklärungen suchte und Parallelen in meinen Erfahrungen fand? Oder gehe ich ganz neutral ran und erzähle in bißchen über diesen „disturbing read“, den so viele Booktuber vorstellen? Wieviel spoilere ich?
Ich fange mal so an, daß ich auf Anhieb in Spits Schreibstil verliebt war. Dieser nüchterne, aber bis ins Detail beobachtende und beschreibende Stil liegt mir. Ja, ich schaue ähnlich (abgeklärt) auf die Welt.
Es geht doch nicht ohne Spoilern, wenn ich etwas über den Text sagen will. Das heißt: ab hier ggf. nicht mehr weiterlesen, wenn man sich das Leseerlebnis nicht verderben will. Und noch etwas: es geht im Roman auch um Suizid – bitte ggf. nicht lesen, wenn das für Dich problematisch ist.
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Die Hauptperson des Romans ist Eva, eine 30-jährige Frau, die in Brüssel lebt, aber in einem kleinen Dorf in Flandern aufgewachsen ist. Der Text wechselt zwischen diesen beiden Lebensphasen – er spielt im Hier und Jetzt (2016) und im Sommer 2002, als Eva 14 war.
In diesem „Hier und Jetzt“ erhält sie eine Einladung von einem früheren Freund, um das Andenken seines verstorbenen Bruders in Verbindung mit der Einweihung eines Melkroboters zu feiern… Dieser Bruder und Freund von Eva, Jan, war im Dezember 2001 verstorben. Schräges und durchgehendes Thema ist: Eva friert nun Wasser in einer großen Wanne zu einem Eisblock, den sie im Auto am konkreten Dezembertag zur Feier mittransportiert.
Schon beim ersten Sprung zurück ins Jahr 2002 wird klar: Eva stammt aus einer dysfunktionalen Familie. Beide Eltern trinken, der Vater spricht offen über Suizidgedanken. Man hält mit viel Mühe den Anschein aufrecht, eine normale Familie zu sein. Die Protagonistin hat zwei Geschwister, den drei Jahre älteren Jolan und die drei Jahre jüngere Tesje. Jedes Kind verarbeitet diesen Familienhintergrund auf eigene Weise: Jolan ist der Naturkundler, der sich auf langen Spaziergängen mit dem Beobachtbaren, dem Vorhersagbaren (= Sicheren) in der Natur befaßt, und sich so aus der Familie herauszieht. Die jüngere Tesje entwickelt im Laufe der Jahre psychische Probleme mit Zwangshandlungen und Eßstörungen.
Eva ihrerseits sucht sich eine „Zweitfamilie“, das sind ihre beiden Freunde Pim (Bruder des toten Jan, Bauernsohn) und Laurens, Schlachtersohn, mit denen sie als „Die drei Musketiere“ ihre Schul- und Freizeit verbringt. Sie ist wie ein Junge in diesem Dreier-Team, kommt nicht gut mit Mädchen aus, fühlt sich plump und wenig fraulich. Aus anfänglich harmlosen Spielen à la „Wahrheit oder Pflicht“ entwickelt sich etwas, bei dem Eva zusehends ein schlechtes Gefühl bekommt: die beiden Jungs katalogisieren die Mädchen des Ortes nach dem Aussehen und beschließen, sie mit Tricks, Lügen und einem schwierigen, von Eva ausgedachten Rätsel dazu zu bringen, sich vor ihnen auszuziehen. Bei diesen „Stichproben“ beginnen sie mit den Mädchen des „niedrigsten Levels“, um sich zu ihrer Favoritin, Elisa, hochzuarbeiten. Eva steht bezeichnenderweise gar nicht auf der Liste. Dieses Rätsel ist zentral für die Geschichte (und den Titel des Romans). Und Eva realisiert: „Ich bin der Köder, bin nicht hier, weil ich Eva bin, sondern weil ich ein Mädchen bin und meine Anwesenheit andere Mädchen beruhigt.“
Lize Spit schafft es, die Geschichte mit allerlei Andeutungen spannend zu halten. Es gibt zwischendrin ein paar Längen, aber da ich den Schreibstil so mochte, fand ich das nicht schlimm. (Oder, sagen wir: diese Längen entsprechen dem langsamen Schmelzen des Eisblocks.) Es gibt viele Seitenstränge, die mir z.T. nicht so ganz einleuchteten, z.B. wieso Jolan auch heute noch Geld an Eva zahlt. Oder die Rolle der Lehrerin Juf Emma, die wie eine Art Über-Ich für Eva war, zumindest zeitweise.
Die besagten „Stichproben“ entwickeln ihre eigene Dynamik, die die Situation aus dem Ruder laufen läßt, während Eva noch hofft: „Am Ende des Sommers wird genug Zeit bleiben, um einfach zu dritt zusammen zu sein, so wie früher.“ Das ist auch ein wenig Negation der Pubertät, ihrer einsetzenden Periode, des Rollenverständnisses usw.
Doch die Situation eskaliert, als Elisa, Pims und Laurens‘ Spitzenreiterin, zum Spiel kommt. Elisa ist für Eva Vorbild: reiches, gutaussehendes Mädchen mit Pferd, das nicht aus dem Dorf kommt, sondern nur zeitweise dort wohnt. Eine dauerhafte Freundschaft ist zwischen beiden nicht entstanden. Und obwohl Eva die Lösung ihres Rätsels vorab an Elisa gab, um sie nicht den Jungs auszuliefern, rächt sich diese an den „Drei Musketieren“ – und hier läßt die „Zweitfamilie“ Evas, Pim und Laurens, nicht nur die Dritte im Bunde fallen, nein, es kommt zu einer drastisch beschriebenen Vergewaltigung. Kurz zuvor denkt Eva noch: „Dies sind meine Freunde und das ist ein außer Kontrolle geratenes Spiel, mehr nicht.“
Zu spät kommt die Einsicht: „Ich bin keine Frau, kein Mädchen, aber ich bin auch keine von ihnen. Ich bin das Karussellpferd, das sich für immer ruckhaft auf und ab bewegen wird, immer auf derselben Stange, jedes Jahr von neuem in auf (sic!) denselben Bahnen, auf derselben Kirmes, für dieselben Kinder.“
Dieses Bild des Karussellpferdes ist vielleicht das zentrale für den Roman. Es beschreibt eine lakonisch aufgefaßte und geschilderte Eintönigkeit. Die sexuelle Gewalt ist die Strafe für die Übergriffigkeit der „Drei Musketiere“, aber Eva erkennt: „Ich bin ihre Strafe.“ Und bezogen auf die sexuelle Handlung: „Ich bin nur Ersatz. Die Cola light der Sexerfahrungen.“ Sie erleidet das.
(Hier würde es sich lohnen, die Beziehung zwischen Elisa und Eva noch einmal zu analysieren. Mir scheint: Elisa agiert mit eigener Grausamkeit, läßt aber gegenüber Pim und Laurens (einen Ausweg) offen, was mit Eva passieren soll. Pim entscheidet sich für die drastische Variante – so wie er Katzen Wattestäbchen vaginal eingeführt hatte. Ebenso könnte man hier das Thema Aufklärung / Sexpraktiken / Erfahrungen aufgreifen, das einen Anteil daran hat, (wie schlimm das ist,) was passiert.)
Hier wird auch klar, warum Eva die sexuellen Wünsche ihres Nebenmieters in Brüssel erduldet und ihn mechanisch befriedigt. Man erkennt, daß sie nie gelernt hat, eine normale Beziehung zu Männern und eine normale Sexualität zu haben. (Hier gibt es einen Nebenstrang: Jolan kümmert sich um die kranke Tesje – und Eva muß trotz eigener Verletzungen ‚funktionieren‘ – so wie alle Kindern in ihrer Familie funktionieren müssen.)
Die Freundschaft der Drei zerbricht; Laurens‘ Mutter hat eine Rolle, die man intensiver beleuchten könnte (von der Vertrauensperson Evas zur Vertuscherin). Die Geschichte strebt ihrem Höhepunkt entgegen: es wird klar, daß Eva nicht regulär zum Fest fährt, sondern in der Absicht, sich gemäß ihres früheren Rätsels in einem Nebengebäude des Bauernhofs zu erhängen: auf einem Eisblock stehend, der langsam schmilzt… Denn die Erinnerung an das, was geschehen war, „wurde mit jedem Tag bitterer.“
Der Leser erfährt auch, daß es zwischen dem toten Jan und Eva eine innige Verbindung gegeben hatte. Jan war in der Schule gehänselt worden; sein Tod war mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Unfall, sondern Suizid.
Evas Suizid läßt sich auf verschiedenen Ebenen erklären: raus aus dem unbefriedigenden, bitteren Leben; Nähe zu Jans Todesort; Vorwurf an Pim, Rache an ihm (und mögliches Auffinden ihrer Leiche durch seinen Sohn); Vorwurf an Laurens‘ Mutter und wortlose Aufforderung, jetzt über das, was damals passierte, zu sprechen.
Schon mit dem Kopf in der Schlinge ruft Eva ihre Schwester Tesje an. Das Handy fällt auf den Boden, Eva hat etwas über zwei Minuten, um auf der Mailbox noch eine Nachricht zu hinterlassen. Ohne Verbitterung dirigiert sie das Jolansche Geld um: es soll für ein neues Bad für die Eltern verwendet werden… Selten liest man eine so intensiv geschilderte Szene.
Wenn ich mit Abstand über den Verlauf des Romans schaue, dann ist da wieder diese schmerzende Ausweglosigkeit – der kleine Ort mit den üblichen Klatsch- und Tratschgeschichten, die grausamen Spiele von Kindern, die Erwachsenen in ihrer eigenen Welt, ihren eigenen Zwängen. So auf die Welt geschaut, ist keine Hoffnung erkennbar. Lize Spit schafft es, diese fahle Welt aufzuzeichnen – grausam, detailliert, mit bitterem Ende. Das ist ihr großer Verdienst.
Ich komme selbst aus so einem kleinen Ort (ok, etwas größer als Evas, und heute bevölkerungsreicher Stadtteil der nahen Stadt), kenne das Geschwätz, aber auch das Schweigen. Die Experimente mit „devianter“ Sexualität. So auf kleine Orte schauend, speziell in der Zeit vor dem Internet, kommt eine große Tristesse auf: was tun Menschen einander an? Wenn Leben Lüge ist… Oder, wie ein Bekannter meines Vaters gern sagte: „Unter jedem Dach ein ‚Ach‘.“
Und doch ist man immer auch Teil davon, lebt eigene Lügen, trägt seine eigenen Narben umher. Manche Dinge schmerzen Jahrzehnte später noch – und Eva zieht ihre nüchterne Bilanz daraus: nicht mehr erinnern müssen.
Lize Spit: Het smelt – dts. Übersetzung „Und es schmilzt“ von Helga van Beuningen, erschienen 2016; Kindle-Version