Gedanken beim/nach dem Schauen des Films von Fatih Akin aus dem Jahr 2019 [Wikipedia], der die Phase im Leben des Serienmörders Fritz Honka von den Morden bis zur Festnahme schildert.
„Bitte beachten: Im Sinne des Jugendschutzes weise ich darauf hin, daß hier sensible Inhalte eines Mediums (Film, Serie, Buch) besprochen werden. Der Text sollte ab Volljährigkeit gelesen werden. – Der Film selbst hat keine Jugendfreigabe.“
Der Film ist keine leichte Kost. Es gibt zwei Tötungsszenen, die Honka quasi in Nahaufnahme bei der Tat zeigen, die kraß sind in ihrer rohen Gewalt, die jeglicher „peng, peng, tot!“-Kinematographie frech ins Gesicht grinst.
Mich führt der Film über zwei Elemente in meine Biographie zurück: zum einen die ständig im Hintergrund zu hörende, deutsche Schlagermusik, zum anderen kommt die Erinnerung an ‚Wir Kinder vom Bahnhof Zoo‘ hoch, das Buch von 1978 über Christiane F., das ich mit 12/13 las. Der Hauptteil des erstgenannten Films hingegen spielt im Jahr 1974.
Wie keine andere Musik steht der deutsche Schlager für eine vermeintlich heile Welt. Er ist wie eine musikalische Variante der Heimatfilme – der Soundtrack meiner Kindheit. Für den pubertierenden Jungen war da viel von Liebe die Rede, vom Geliebt- und Verlassenwerden, von verbotener Liebe; die vielen Andeutungen luden zu sehnsüchtigen Betrachtungen ein. „Süß, traurig“ notierte ich kurz, während ich den Film schaute und wieder eine schmachtende Schlagerstimme zu hören war, wobei die Qualität „süß“ so eine eklig anhaftende, klebrige Konsistenz hatte. Der Soundtrack des „Goldenen Handschuhs“ könnte passender nicht sein. Musik transportiert Gefühle – und dieser Kontrast zwischen oft besungener Liebe und versprochenem Glück einerseits und dem „Treibgut der Gesellschaft“ andererseits, das sich in Kneipen bei Bier und Korn aus diesem Leben wegsäuft, könnte schmerzhafter nicht sein. Die dunklen Rückzugsorte sind alle verschmutzt in diesem Film, also Kneipe sowie Wohnung Honkas, während die Straßen ein sauberes Bild in der Öffentlichkeit präsentieren.
Neben dem Schmutz steht die Gewalt. Mag man online die problematische Kindheit Honkas nachlesen, die auch zu einer Stellung am Rande der Gesellschaft als Hilfsarbeiter führte. Durch einen Unfall z.T. im Gesicht entstellt, waren seine Chancen bei Frauen gering, dafür war sein Machtanspruch umso größer. Sex ist immer nur vordergründiges Thema, eigentlich geht es um Dominanz. Honka wird von Akin als oft mit Erektionsstörungen kämpfend dargestellt, was dazu führt, daß dann ein Gegenstand für die Penetration her muß. Der Täter geht roh mit den Frauen um, schlägt und erniedrigt sie.
Diese Opfer sind ebenfalls solche Randexistenzen, deren Verschwinden keiner bemerkt, und zu deren Biographien oft zum schnulzigen Schlager im Hintergrund Details eingeflochten werden, so über die Zwangsprostituierte in einem KZ oder die Klosterschülerin, die sexuelle Übergriffe der Nonnen erleiden mußte. Alle Opfer folgen Honka in seine Wohnung wegen: Alkohol = Sex gegen Bezahlung.
Die junge blonde Petra ist das Symbolbild für die Frau, die Honka immer haben will, aber nie bekommt. Auch bei ihr wird schon das gesellschaftliche Versagen angedeutet. Mit einem Freund kommt sie auf die Reeperbahn, besucht den Goldenen Handschuh, aber letztlich ist ihre dominante Anwesenheit bei Honkas Festnahme der Lichtblick des Films.
Ich habe die Reeperbahn vor vielen Jahren mit Corri-May kennengelernt, wobei ich mich in Anlehnung an den Film vor allem an eine mit Bier, Korn und einem Hamburger Großindustriellen und Sport-Mäzen „durchsoffene“ Nacht in der Ritze erinnere, wonach es dann noch bis zum Morgen in eine Disco ging. Vieles ist halt grell und aufreißerisch, aber das zum Staunen hinter vorgehaltener Hand bei einer Kieztour gezeigte „BDSM-Zimmer“ war so „stino“, na ja. Ich merke, daß mich nie mit ‚Glamour‘ inszenierter Sex interessiert hat, und eben auch nie das Thema Prostitution.
Ich springe zu „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“. Ich durfte das Buch bei meiner in solchen Dingen strengen Mutter lesen, weil sie sich wohl erhoffte, ich würde dadurch von Drogen abgeschreckt. Unsere Stadt war in den 70ern eine Hochburg des Drogenhandels im nördlichen Rheinland-Pfalz.
Beim Lesen spürte ich den Wunsch, helfen zu können. Es führt keine gerade Linie von da zu der Tatsache, daß ich letztlich doch Sozialarbeiter wurde, der mit Straftätern und psychisch kranken Menschen gearbeitet hat. Ich hatte mich sogar bei einer Bahnhofsmission einer Großstadt beworben, wurde aber nicht eingestellt. Heute bin ich in einem eher speziellen Bereich tätig, aber ich glaube, ich kann sagen: nichts Menschliches ist mir fremd, dafür habe ich genug gesehen.
Doch beim Lesen von ‚Wir Kinder vom Bahnhof Zoo‘ war da noch eine andere Unterströmung, eine dunklere: Drogen, Abhängigkeit, Sex – eine Gratwanderung von bittersüßer Freiheit. Als ich 1988 erstmalig nach Berlin kam, verliebte ich mich in die Stadt. Und dann denke ich immer, wenn das Thema, wie jetzt beim Schreiben aufkommt, an den kalten, nebligen Morgen im November Jahre später im Prenzlauer Berg. Ich hatte in einem Café etwas getrunken, war nun mit hochgeschlossener Jacke unterwegs auf dem alten Kopfsteinpflaster. Da hatte ich das Gefühl, die Stadt zieht mich in sich hinein, lädt mich ein, nie wieder fortzugehen aus dieser Melancholie.
(Ich spreche aber eher vom geteilten Berlin, das sich nach dem Mauerfall so drastisch verändert hat, daß ich heute nicht mehr „hin muß“.)
Die Schwarze Szene befaßt sich oft mit dieser Gratwanderung – dem Grat zwischen Leben und Tod, der Frage nach dem, was nach dem Tod kommt, auch dem Ausloten von Grenzen des Denk- und Machbaren. Es ist diese Faszination für das Morbide, für das Andere, das Nicht-Genormte. Und oft ist es eine stille Faszination, so wie die Dosis das Gift macht. Habe ich zuviel des Anderen, werde ich das Andere/der Andere. So wie der sprichwörtliche Blick in den Abgrund: schaust du zu lange, schaut der Abgrund in dich hinein. Doch eigentlich ist es umgekehrt: du saugst dich im Abgrund fest. Viele Dinge, die man (auch) mit der Szene assoziiert, haben eine Grenze zur Normalität verschoben: BDSM, Body Modifications, Fetisch, das Experimentieren mit alten Religionen oder Kulten, auch Drogen.
Die Filme (bzw. das Buch) faszinieren mich, weil sie mich mit meiner eigenen Seele konfrontieren. Jede Entscheidung für etwas, ist zugleich eine gegen etwas anderes. Und jenseits der Entscheidungen sind die Wünsche: was wünsche ich mir, was habe ich? Welche Gefahr besteht, wenn ich einen Wunsch verfolge und umsetze?
Vielleicht berührt mich der „Goldene Handschuh“ gerade auch deswegen so, weil ich aktuell meinen Alkoholkonsum drastisch reduziert habe. Ab und an mal ein Bier, aber kein Berauschtsein, keine bacchantischen Gefühle… 😉
Ich spüre, daß da etwas fehlt, daß ich den Schieber auf meiner Seele wieder deutlich Richtung „stino“ zurückgeschoben habe. Vielleicht ist das nicht so verständlich, wenn man das liest. Es ist nicht der Alkohol, es ist der Seelenzustand.
Somit entsteht das Bild eines „Pendels“ oder auch eines Maßbandes. Auf der Seite A ist die künstliche Schlagerwelt, oder die Welt der ‚Freier‘ mit ihrem Doppelleben. Auf Seite B stehen Honka und die ermordeten Frauen, stehen die Drogentoten, auch die Dealer. Das sind in meiner Wahrnehmung farbige Pole, während der Mittelbereich von breitem Grau gefüllt ist. Das besingen Kite mit „False alarm / Empty guns / Mediocre life / Panic comes“ (Panic Music). Es ist diese Panik, das Leben nicht voll auskosten zu können, die Angst davor, im Alter auf einen grauen Nebel zurückschauen zu müssen.
Und doch ist es anders: die grellen Pole töten, während es inmitten des großen grauen Bereichs diesen Grat gibt, um den der Tanz des Lebens kreist. Gefährlich ist nur das Grau weit außen, vor der Farbe, die frühen Morgenstunden als Übergangszeit, nicht die dunkle Mitternacht und ihre Geheimnisse, die man auskosten muß, um den Tag durchstehen zu können. Auf des Messers Schneide, nicht zerschnitten.