Angesichts der aktuellsten Wittschen Kooperationen – „Elektrosexuell“ mit Harms und „Ich hab dich nie vergessen“ mit Nino de Angelo – habe ich mir mal das Album vom September 23 angehört, das wohl um diese Lieder und drei weitere ergänzt im Februar 24 in einer Special Edition erscheinen soll.
„Elektrosexuell“ ist im Grunde gar nicht schlecht, weil es auf recht allgemeiner Ebene gesellschaftskritische Statements bringt: Wahrheit ist digital, wir sind ferngesteuert, ‚irgendwer‘ gibt uns täglich unsere Drogen, wir hängen am Tropf… Das bleibt aber alles wenig konkret, plätschert poppig vor sich hin.
Bei „Ich hab dich nie vergessen“ sagte Corri-May gleich: „Oje, der Graf ist zurück…“ Ein eingängiger, treibender Rhythmus ist hier mit platten Floskeln unterlegt: Zeit zerbricht, dann vergeht sie, während sich der Spiegel dreht. Der Leuchtturm steht tief im Ozean… Worthülsen. Manche Bilder scheinen sich auf den Leuchtturm zu beziehen, andere (‚wache ich seit vielen tausend Jahren‘) sind nicht einzuordnen. Da fühle ich mich irgendwie ‚jenseits von Eden‘.
Aber wie ist das Album? Leider für mich auch sehr durchwachsen.
Signale – als erstes Lied – gefällt mir sehr gut. Es hat einen anarchistischen Zug; aus dem ‚ich‘ spricht das Ich der Erde. Es ist ein letzter Aufruf an die ‚Völker‘, nun endlich vernünftig mit der Erde umzugehen. 👍🏻
Weg ins Licht – ein plätscherndes Liebeslied ohne irgendeine Textzeile, die mich anspricht. Der ‚Fürst der Nacht‘ wird dann ins Licht geführt und so. 👎🏻
Sebelele – ein Song mit afrikanischem Einschlag. Der Titel heißt wohl ‚wir schlafen‘ auf Zulu. Durchschnitt. —
Schwör mir – „daß du bleibst“, ein Liebeslied, das mir gut gefällt. 👍🏻
In unserer Zeit – Duett mit M. Rosenberg. Von der Melodie wirkt es wie ein auf Elektro gemachtes Mittelalterlied. Ein Liebeslied mit dem Fokus auf das größere Ganze, den „Glanz der einen Welt“, die „Einigkeit in der Zukunft“. Ist ok. —
Revolution – druckvoller, gitarrenlastiger Song, der aber – für mich – offenläßt, worin denn nun grundsätzlich diese ‚Revolution‘ besteht – bei Zeilen wie: ‚Wir sind nicht allein und zum Leben geboren – Revolution‘. (Letztlich: was ist Reform, was Revolution, was Umsturz?) 👎🏻
Jung – schönes Lied, eine Art Klage über die vergängliche Zeit mit so einer Zeile, die bei mir ‚connected‘: das Licht ins uns, es strahlt nicht mehr. Gefällt mir nach ‚Signale‘ sehr gut. 👍🏻
(Mittlerweile ist der Song in meiner ‚daily rotation‘ – find ihn wirklich gut.)
Hörst du mich – auch bei diesem Duett muß ich den Text kritisieren. Da wird gefragt ‚hörst du meine Seele‘ (kann man eine Seele hören?) oder ‚Hände suchen nach deinem Atem‘ (Hände?). Joh, das ist vielleicht mein Hauptproblem mit vielen Liedern dieses Albums, daß die Texte platte, z.T. unpassende Bilder aneinanderreihen. 👎🏻
Bäume – oje, eine Melodie wie eines der typischen Kölschen Fastelovend-Lieder… 👎🏻
Propaganda – ja, auch so ein schön klingendes Wort wie ‚Revolution‘, aber wie genau ist es im Rahmen des Textes zum Thema Liebeskummer gemeint? Propaganda ist für mich etwas anderes (i.S. systematischer Verbreitung politischer Ideen mit dem Ziel der Beeinflussung von Menschen). 👎🏻
Träume im Gegenwind – orchestraler Anfang, monumentaler Refrain – die Suche nach ‚meiner Welt‘, das ‚Denken gegen den Strom‘ – dieser Song holt mich wieder ab. 👍🏻
Werke der letzten Jahre, insbesondere die Rübezahl-Trilogie, und die Bayreuth-Sachen gefallen mir gut. Für mich ist ‚Der Fels in der Brandung‘ klar und deutlich schwächer, aber das Publikum sieht das anders, denn Witt erreichte mit diesem Album immerhin Platz 7 der deutschen Albumcharts. Das gelang ihm vorher nur mit Eisenherz (2002). Vielleicht ist es so, daß Witt polarisiert, man denke z.B. an das Gloria-Video, oder mit seinen stilistischen Sprüngen immer mal anderes ‚Klientel‘ anzieht. Ich mag die düsteren Lieder (Dämon, Schmerzende Welt) viel lieber als so platte Liebeslieder, aber das ist Geschmackssache. Insgesamt erscheint mir das Album als professionell produziert, wirkt aber gerade nicht wie aus ‚einem Guß‘, wohingegen die Texte überwiegend schwächer sind.
Nachtrag 23.1.24: DarkMusicWorld berichtet, daß die im Februar startende Fels-in-der-Brandung-Tour quasi die Abschiedstournee des bald 75-jährigen Witt sein wird.