Drei Tage und ein Leben (Film)

Ich habe neulich über meine Vorstellung von den unpolitischen Gemeinsamkeiten in der Schwarzen Szene geschrieben (Artikel zur Bearbeitung offline), die in den düsteren Abgründen des Menschlichen liegen, – und nun sehe ich mehr durch Zufall einen Film, der genau das ausdrückt.

Der Film „Trois jours et une vie“ von Nicolas Boukhrief, Regie Yourek Dury, ist einer über das „Davonlaufen vor Verantwortung“, das notierte ich noch während ich schaute. Dann korrigierte ich zum „perfekten Mord“, aber letztlich stand im Notizbuch nur „Lebenslügen“. Unbewußt passen die drei Begriffe zur Dreiteilung des Films: er beginnt 1999 in einem kleinen Städtchen in den belgischen Ardennen, dann wird 15 Jahre weitergesprungen, daraufhin noch einmal drei Jahre. Erst dann ist die Lebenslüge perfekt.
Der Text spoilert den Film.

Davonlaufen vor Verantwortung

Hauptcharakter Antoine ist ein Junge, der an einem Tag zwei Schicksalschläge wegstecken muß. In einem Wutanfall wirft er im Wald einen Stein nach einem kleinen Nachbarsjungen, Rémi, der dadurch unglücklich stürzt und verstirbt. Sehr intensiv die Szene am Weihnachtsabend: Antoine ging davon aus, daß er die gewünschte Nintendo-Konsole wegen der schlechten Einkünfte seiner Mutter nicht bekommen würde, aber er erhält sie doch, was im krassen Kontrast zu seiner Tat steht. Er nimmt Tabletten, der hinzugerufene Arzt bemerkt den Zusammenhang zum Verschwinden Rémis, aber ein riesiges Unwetter zerstört kurz darauf große Waldbereiche. In der abschließenden Nahaufnahme von Antoines Gesicht spürt man seine Gewißheit: nach dem Sturmbruch wird keiner die von ihm versteckte Leiche finden.

Der perfekte Mord

Vorab: es ist natürlich kein Mord, sondern eher Körperverletzung mit Todesfolge. Aber als Antoine mit frisch abgeschlossenem Medizinstudium 15 Jahre später in den Ort zurückkehrt, geht er davon aus, jetzt wird niemand mehr die Leiche finden.

Visuell wird die Wende im Fall durch die großen Holzlaster angekündigt, die langsam durchs Bild fahren; eine „Lawine kommt ins Rollen“. Antoine kann seinen Plan, Rémis Überreste zu bergen und vom Ort wegzubringen, nicht umsetzen, dafür werden diese kurz danach wohl von Forstarbeitern gefunden.

Hier kommt ein m.E. eher unmögliches Element zum Tragen: die Spurensicherung will 15 Jahre nach dem Tod, während die Leiche in einer Felsspalte lag und der Witterung ausgesetzt war, noch ein einzelnes Haar gefunden haben, das evtl. dem Täter gehörte. Ob das wirklich nach so langer Zeit noch möglich ist? Halte ich für unwahrscheinlich, aber dieses erzählerische Element ist wichtig, weil es noch ein anderes Beweismittel gibt…

Rémis Schwester Emilie ist auch kurz im Ort, wird aber mit ihrem Verlobten nach Paris ziehen. Es kommt zum Sex zwischen ihr und Antoine, irgendwie eher mechanisch und kommentiert als ‚bringen wir es hinter uns‘. Doch die Frau wird schwanger, trennt sich von ihrem Partner. Antoine, damit konfrontiert, rät zur Abtreibung, doch Emilie will das Kind behalten. Sie fordert im Grunde, daß er sie heiratet, weil man das auf dem Land so macht – man zieht nicht allein einen „Bastard“ groß. Er: „Aber ich liebe dich nicht.“ Sie: „Ich liebe dich auch nicht.“

Jetzt kommt der alte Arzt des Ortes zum Tragen, der Antoine damit konfrontiert, daß dieser mit dem Verschwinden etwas zu tun haben müsse. Er sagt: „Ich verurteile dich nicht; verurteile du mich auch nicht. Jeder muß für sich selbst entscheiden.“
Doch bevor der Arzt die Staatsanwaltschaft informieren kann, bietet Antoine ihm einen „Teufelspakt“ an: Ich übernehme deine Praxis, bin für die Menschen im Ort da, gehe nicht als Arzt nach Ägypten, wenn du mich nicht verpfeifst. Deal!

Lebenslügen

Wir springen wieder drei Jahre weiter: Offenbar sind Antoine und Emilie verheiratet, es gibt einen kleinen Jungen. Aus einmaligem Sex wurde eine Beziehung, die nicht von Liebe getragen ist.

Doch die Lebenlüge bzgl. des getöteten Rémi kommt nun erst zu ihrem endgültigen Abschluß: Antoines Mutter war mit einem polnischen Kaufmann aus dem Nachbarort zusammen, wollte die Beziehung aber nicht offen führen, weil man im kleinen Dorf darüber getratscht hätte. Dieser Pole kommt zum neuen Dorfarzt Antoine und gibt ihm die grüne Kinderuhr, die er beim Wegschaffen von Rémis Leiche verloren hatte. „Wir haben ein Geheimnis…“

Aus Liebe zur Mutter schweigt er, verläßt die Region. Die Mutter dankt ihm – ist also, das bleibt unklar, wohl Mitwisserin.

Und zu Weihnachten, 18 Jahre später, sitzt der Täter mit seiner Frau, der Schwester des Opfers, und deren Eltern, Vater und Mutter des Getöteten, zusammen am Tisch. Frohe Weihnachten!

Die Lebenslüge steht. Aber um welchen Preis!? Schon ein Drittel des Films, der Handlung hätte für die Lebenslügen eines normalen Menschen gereicht. Aber daß der Täter in die Familie des Opfers einheiratet?

Dieser in tristen, dominierend braunen Farben präsentierte, knapp zweistündige Film erzählt (oft langsam und mit ruhiger Musik), was Menschen einander antun können. Er erzählt von Ehrlichkeit, von Schweigen und Lügen; von Fassaden, die Menschen aufbauen. Es sind diese Filme (Bücher…), die mir lange im Kopf bleiben, oft noch Tage danach. Das ist der düstere Stoff, der für mich diese Schwarze Szene ausmacht. Ich fühle mich in diesen Film ein, er liegt mir buchstäblich im Magen, er motiviert mich zum Nachdenken über meine Lebenslügen. Leid ist ein Überbegriff – vom Leid der Eltern des getöteten Jungen bis hin zum Aufwachsen des Sohns von Emilie und Antoine bei Eltern, die sich im Grunde nichts zu sagen haben.

Ein wundervoller Film – ganz nach meinem Geschmack. Rush out.

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