Ursprünglich wollte ich die drei folgenden Bücher jeweils einzeln vorstellen. Dann fiel mir auf, daß sie sich letztlich so ähneln, daß es eher Sinn macht, sie gemeinsam, aber in ihren Unterschieden vorzustellen.
Im Deutschen wie im Englischen gibt es Buchserien, die ein Thema möglichst knapp vorstellen wollen. Es gibt die Serie „in einer Stunde“ oder auch die umfangreichere Beck-Wissen-Reihe. Im Englischen existiert „A Very Short Introduction“ – und als Teil davon „The Gothic“ von Nick Groom, ein Bändchen unter Din-A5-Größe, textfokussiert, wenige Bilder, immerhin Carl McCoy. 😉
Groom setzt als Grundlinie, daß „Gothic“ zu verschiedenen Zeiten unterschiedliches gemeint habe; daß es aber eine gemeinsame Geschichte und gemeinsame Attribute durch die Jahrhunderte gibt. Er startet beim germanischen Stamm der Goten, dessen Wanderungen und Schlachten ihn zum Fazit führen: „The Goths were cosmopolitans.“ Weiter geht es mit der Gotik als Kunstform, speziell was die Baukunst angeht. Interessant: die Assoziation des Gothic mit Ruinen komme, so Groom, von der Auflösung der englischen Abteien im 16. Jahrhundert als Loslösungsbewegung vom römischen Katholizismus: nach Plünderungen blieben vielsagende Ruinen zurück – „an aesthetic of ruin“. Es folgt der kurze Blick auf die Reformation, auf v.a. englische Gegebenheiten, bis das nächste große Kapitel aufgeschlagen wird: die Gothic Literature, die Groom nicht erst mit dem Castle of Otranto beginnen läßt, sondern deutlich früher im 18. Jahrhundert. Autor Walpole lebte in seinem eigenen Gothic-Traumhaus: Strawberry Hill, ein vom gotischen Baustil inspiriertes Schlößchen. Es fällt auf, daß Groom gerade hier auf literarischem Terrain sehr ausführlich ist. Natürlich folgen die üblichen Verdächtigen: Frankenstein, Dracula, und ein Abstecher in den Gothic Romanticism, der Einflüssen deutscher Volkslieder unterlag. Für das letzte Viertel des Buches springt Groom in die USA, um auch „American Gothic“ zu beleuchten. Hier werden natürlich Poe und Lovecraft besprochen. Weiter geht es mit der entstehenden Filmkunst, speziell der Nosferatu-Verfilmung, einem separaten Abstecher zu den Hammer Films. Die chronologische Bearbeitung des Stoffes kommt dann zum Kino: Psycho, Exorcist, The Omen usw. Das Thema Musikkultur wird nur ganz kurz und oberflächlich zum Ende des Werkes hin angesprochen.
Wer speziell zu Baukunst und Literatur mit Fokus auf England eine gute Einführung haben will, ist hier richtig.
Roger Luckhursts „Gothic. An Illustrated History“ – ist genau das: ein gebundenes Buch voller Bilder (über 350 Illustrationen auf 288 Seiten), in dem man sich beim Schmökern verlieren kann. Aber gleich das erste doppelseitige Bild, die „Tintensprache“ der Aliens aus Arrival, zeigt, daß Luckhurst das Thema weiter faßt. Der Autor faßt die Absicht hinter dem Buch so zusammen: „(GIH) takes up the challenge of building a global history of the Gothic, attempting to glimpse this protean creature as it shape-shifts.“
Das Werk ist in vier große Kapitel aufgeteilt: Architecture & Form / The Lie of the Land / The Gothic Compass / Monsters.
Los geht es mit dem Baustil („The Pointed Arch“), direkt gefolgt von „Ruins“, wo der Autor für das 18. Jahrhundert angibt: „the Gothic as a register of crisis“.
Sieht man Bilder der Geisterstadt Pripjat (bei Tschernobyl) oder eines verlassenen Ladens nach der Fukushima-Katastrophe, wird klar, daß Luckhurst den Bogen viel weiter spannt als z.B. Groom. Der Autor orientiert sich an Schlagworten, die er mit Text und Bildern ausarbeitet und als „Gothic“ präsentiert, so z.B. das Kapitel Labyrinth, wo auch auf das Computerspiel Doom eingegangen wird.
Wer glaubt, daß der Text hinter den Illustrationen zurückbleibt, liegt falsch. Der begleitende Text ist hochkarätig und präzise.
Im zweiten Kapitel geht es um den Gegensatz von Stadt und Land, um Dörfer, Wälder, Wildnis – viel zu viel Stoff und Details, um das hier wiederzugeben.
Kapitel 3 „Gothic Compass“ wird nach den vier Kompaßrichtungen aufgeteilt + einem Kapitel zu „Planetary & Cosmic Horror“. Unter Norden werden die historischen Goten besprochen, unter Süden Elemente von Kälte (Antarktis, Film: The Thing) bzw. der Süden der USA (Southern Gothic). Speziell japanischer Horror findet sich unter East, während das für mich fragwürdigste Kapitel unter ‚West‘ die Besiedlung des amerikanischen Westens, der American Frontier, thematisiert. Das ist schon wirklich weit gefaßt…
Unter „Monster“ geht es um vielfältige Gestalten aus Mythen und Sagen – von Godzilla über das Alien zu Werwölfen usw.
Um noch einmal auf den außergewöhnlich inhaltsreichen Text zurückzukommen: am Ende des Buches werden sogar noch nordisch-germanische Seelenvorstellungen (hugr, fylgja, fetch…) vorgestellt.
Alles in allem ein fundiertes Werk, das gerade durch die Weite der Themen den Blick darauf lenkt, daß Gothic mehr sein kann als Geister-Literatur, Dracula-Filme und Musik – ja, über Musik wird gar nicht geschrieben… Ein herrliches Werk zum Eintauchen, Blättern, Sich-inspirieren-lassen…
Von der Üppigkeit der Illustrationen her steht Emma Maddens „Eternal Goth“ Luckhurst nicht nach, auch wenn auf den ersten Blick ein Unterschied auffällt: Luckhursts breiter Strich bedeutet auch viele bunte Illustrationen, während Maddens Buch eher schwarz dominiert ist: oft liegt weißer Text auf schwarzem Hintergrund. Madden versteht unter Gothic „the World’s most enigmatic cultural movement“, so der Untertitel. Auch Madden (ich verwende keine Pronomen, da Madden wohl queer ist) hält sich an die übliche Abfolge: Goten, gotischer Baustil, viktorianische Literatur, Beginn des Film-Zeitalters, Gothic Rock, Jugendkultur – und dann großer Fokus auf modernen Blüten des Gothic. Das ist ein völlig anderes Konzept als das Luckhurstsche.
Und hinzu kommt: Madden hat eine locker-schnoddrige Sprache, die einem gefallen muß. Schnell wird deutlich: das Buch selbst versteht sich als Pop-Art.
Gothic war lt. Madden „the dark, sexy, fantastical counternarrative to the pragmatic Age of Enlightenment“. Darüber hinaus seien die ersten gotischen Texte davon angetrieben gewesen, England vom „katholischen Festland-Europa“ abzutrennen.
Doch den Schriftstil muß man tolerieren können – er ist halt manchmal etwas ‚gringy‘: „(The Vampire) is the most gentlemanly of murderers. He seduces, he wines and dines (no garlic, he wants to kiss you; plus, he’s allergic.)“
Oder: Der Vampir sei mit seiner „heiligen Dreifaltigkeit“ aus Blut, Sex und Tod ein Gegenstück zur christlichen Dreifaltigkeit. Ja… Ok.
Aber klar wird beim Lesen schon: Madden hat einen deutlichen roten Faden, an dem sich entlanggehangelt wird.
Über die starken Frauengestalten wie Theda Bara oder Vampira geht es in die Moderne. Auch hier wieder die Anerkennung der Doors als einer der ersten Goth-Bands. Per QR-Code kann man direkt eine „1979-inspired Proto-Goth“ Playlist aufrufen. Bowie, Bauhaus, Joy Division, Siouxsie – alles drin. Unter „Gothic Parody“ die Munsters, Rocky Horror Picture Show, dann ein Abstecher zum Satanismus-Vorwurf gegenüber der neu-etablierten Jugendszene. Weiter zum popkulturellen Aspekt mit Comics (The Crow, Batman). Über Mode geht es zum globalen Gothic-Phänomen mit einer abschließenden Betrachtung, wie Gothic auch die (eigentliche) Popkultur beeinflußt hat – auch hier eine Playlist per QR-Code mit Künstlern wie Madonna, Lady Gaga, Billie Eilish usw.
Fazit: Wer eine augenöffnende, weite Betrachtung des „Gotischen“(-Tragischen, möchte ich sagen) haben will, darunter aber weniger Musik versteht, wird mit Luckhurst glücklich.
Wer viel Popkultur, Gothic Music, lockere Sprache und schöne Illustrationen haben will, wird von Madden hervorragend bedient. Macht sich auch gut im Regal. 😉
Wer einen kurzen, prägnanten Gesamtüberblick lesen – nicht schauen – will, und mehr über Literatur als Musikkultur lernen will, der greift zu Groom.