Wittkop – The Necrophiliac (Novelle)

frreepik.com - 18+Bitte beachten: Im Sinne des Jugendschutzes weise ich darauf hin, daß hier sensible Inhalte eines Mediums (Film, Serie, Buch) besprochen werden. Der Text sollte ab Volljährigkeit gelesen werden.

 

Gabrielle Wittkop: The Necrophiliac (Übersetzung aus dem Französischen ins Englische durch Don Bapst)

Der Text spoilert die Novelle – na ja, viel gibt es da letztlich auch nicht nicht zu spoilern. 😉

Diese 1972 erstmalig auf Französisch erschienene Novelle ist sicher von der Thematik her auch für meine Lesegewohnheiten ungewöhnlich, so daß ich auf einer ganz persönlichen Ebene beginnen möchte, die sozusagen die Basis für meine Rezeption des Stoffes ist.

Ich habe in meinem Leben bislang ein paar Leichen gesehen, wobei es zwei intensive, sehr unterschiedliche Erlebnisse gab, die die Autorin mit ihren Beschreibungen quasi reaktiviert. Als 20-Jähriger machte ich ein Pflegepraktikum in einem Krankenhaus. Ein alter Mann war auf unserer Station verstorben und ich wurde gefragt, ob ich mit einem Pfleger den Leichnam waschen könne. Ich weiß nicht, ob das heute noch üblich ist, oder ob man das – Stichwort: Pflegenotstand – dem Bestatter überläßt. Wir wuschen den Mann also, schlossen die Augen, beschwerten sie, deckten die Leiche mit einem weißen Laken ab und schoben sie in einen separaten Raum, weil die Angehörigen sich angekündigt hatten. Das war sehr friedvoll. Ich ekelte mich auch nicht vor dem Toten, weil er ja noch ‚warm‘ war. Es war nur ’seltsam‘, jemanden anzufassen, ihn zu waschen, der sich nicht mehr regte.

Ganz anders ein Erlebnis vor ein paar Jahren. Ich hatte mit einem renitenten älteren Mann zu tun, für den ich verschiedenste Hilfen organisiert hatte, die er ablehnte. Nachdem ich ihn telefonisch mehrere Tage nicht erreichen konnte, entschloß ich mich, an einem Silvestermorgen nachzuschauen. Ich schloß die Haustür auf, rief seinen Namen – nichts. Ich ging die Treppe zum ersten Stock hoch, als mir schon der Verwesungsgeruch in die Nase zog.
Als Kind war ich viel im Wald unterwegs, fand tote Tiere, die, wie im Falle eines Rehs, einen ziemlich unangenehmen Geruch verströmten, aber ich glaube, der menschliche Geruch ist noch einmal besonders: Selbst wenn man das noch nicht gerochen hat – man erkennt es sofort.
Auch oben keine Antwort. Ich öffnete die Schlafzimmertür, der Raum war stockdunkel, unglaubliche Wärme und unerträglicher Gestank kamen mir entgegen. Ich tastete nach dem Lichtschalter – dann sah ich den Mann: tot, schon länger, aufgedunsen, braun angelaufen, so saß er auf dem Bett. Ich ging nach draußen, atmete tief durch, rief die Polizei.

Auch dieser Anblick hat mich nicht dauerhaft ‚beeinträchtigt‘, obwohl ich mich erinnern kann, daß ich im Computerspiel The Division 2 auf eine ähnlich aussehende Leiche stieß, an der ich vorbei mußte, um eine Kiste zu ‚looten‘. Da kam das Ereignis wieder hoch.
Und natürlich war hier Ekel im Spiel (im doppelten Sinne), im Gegensatz zum vorher Geschilderten. Ich beneidete das Kripo- und Bestatter-Team nicht, das zu Spurensicherung und Abtransport anrückte.

Wittkops Beschreibungen koppelt man wohl automatisch zurück an seine eigenen Erfahrungen mit dem Tod. Der nekrophile Lucien, ca. 40 Jahre alt, in Paris lebender Antiquar, besorgt sich auf diversen Friedhöfen frische Leichen, die er mit zu sich in die Wohnung im fünften Stock über dem Antiquariat nimmt. Tagebuchartig beschreibt er die Leichen – und den Sex mit ihnen. Es handelt sich dabei um Männer, Frauen, Kinder jeglichen Alters. Das ist eigentlich schon der ganze Inhalt des Buches, der immer gleiche Ablauf:

My boyfriends with anuses glacial as mint, my exquisite mistresses with grey marble bellies, I bring them at night into my old Chevrolet, while everyone sleeps, and I take them all back to the bridge at Sèvres or the one at Asnières.

Die einsetzende Verwesung ist natürlich auch für Lucien ein Problem, der aber gerade bezüglich des Geruchs eine hohe Toleranzschwelle hat. Diesen Geruch gibt er im Rückgriff auf „Bombyx“ wieder, die Seidenspinner-Motte. Diese Tiere hatte er im Naturkundeunterricht in einer Kartonschachtel aufgezogen und beschreibt deren Geruch als „fine, dry, musky odour of leaves, larvae, and stones“. Hieran erinnert er sich beim Tod seiner Mutter.
Mit deren Tod ist offenbar die Nekrophilie verknüpft. Lucien war 8 und entdeckte gerade das Thema Selbstbefriedigung. Dabei wird er von seiner Großmutter jäh unterbrochen, die den Tod der Mutter mitteilt. Am Sterbebett nimmt Lucien genau diesen Mottengeruch wahr, der im Buch immer wieder mit ‚the bombyx‘ angegeben wird, und der nun scheinbar den Mund der Mutter verließ und sich ausbreitete. In dem Moment erlebt Lucien eine Art verzögerten Orgasmus, so daß sich sexuelle Lust mit diesem Geruch des Todes verknüpfte. Das erklärt Jason Abel etwas näher im Rückgriff auf Sigmund Freud (Todestrieb / Libido). Lucien entwickelt keine erotischen Gefühle im Hinblick auf lebende Menschen: ein Mädchen in seiner Schule, das er attraktiv findet, stellt er sich als Leiche vor.

I can't see a pretty woman or a handsome man without immediately wishing he or she were dead.

Der Sex ist unterschiedlich – Öffnungen der Körper nutzend oder nur die Hautoberfläche, wobei die Beschreibungen zu einem toten Baby schon Ekel aufsteigen lassen.
In eine Leiche, Suzanne, verliebt sich Lucien. Er kühlt sie über zwei Wochen hinweg und schildert mit Worten, die an Liebeskummer erinnern, wie er der zunehmenden Verwesung nicht mehr Herr wird.

Lucien verläßt Paris, auch weil er beim Entsorgen einer Leiche in die Seine beobachtet worden war, und reist nach Neapel. Angesichts eines hübschen schwedischen Geschwisterpaares, Ertrunkenen, die er mit aufs Hotelzimmer nimmt, kommt er so ins Schwärmen, daß er alle Vorsicht fallen läßt. Das Buch endet mit seiner bevorstehenden Verhaftung, obwohl die letzten Sätze etwas kryptisch sind.

Beim Magazin Vice findet sich ein langer Artikel, der gerade die Abstufungen von der nur im Kopf stattfindenden Nekrophilie zur tatsächlichen herausarbeitet und auch sonst sehr lesenswert ist.

Welchen Zweck verfolgt die Autorin mit solch einer Novelle? Ich weiß es nicht. Das ging mir auch schon einmal bei einem „Horrorroman“ so, der keinen Horror, sondern pure, platte, massive Gewalt schilderte, so daß ich mich nach dem Lesen fragte: wozu schreibt man sowas? Und der Text war im Endeffekt ekliger als Wittkops, aber wohl auch, weil es da Lebende waren, die sich untereinander Gewalt antaten.

Wittkop scheint eine Freidenkerin gewesen zu sein, die bisexuell war und den Marquis de Sade als literarisches Vorbild hatte. Der Independent schreibt im Nachruf: „These free-thinking attitudes to life were also extended by her to the wry contemplation of death, disease and decrepitude. So it was the subject of her first novel, Le Nécrophile („The Necrophiliac“), published in 1972 by the equally anti-moralistic, anti-political, pro-sexual-liberty pioneer of modern erotic editions, Régine Desforges.“

Ich kann das gut nachempfinden. Auch ich empfinde mich als Freidenker, als jemand, dem Tabus zuwider sind. So könnte man die Novelle in dem Sinn verstehen, daß Wittkop einer ‚prüden‘ Welt den Spiegel vorhalten möchte: schaut mal, was es da gibt, wovor ihr euch ekelt… Der Reiz eines solchen Texts liegt aber nicht nur im Offenlegen sexueller Devianz, sondern auch im Schreiben über das ‚Unfaßbare‘. Der Tod umgibt uns täglich, aber der Umgang mit ihm fällt den Menschen schwer. Er wird aus dem Alltag ausgeblendet und tabuisiert – oder mit schönen Euphemismen umschrieben. So vermutlich auch Wittkops Tod – ein Suizid angesichts einer Krebserkrankung. Für mich ist das Buch ein Ruf: „Schaut her! Schaut! Nehmt wahr, was es jenseits eurer Vorstellung noch alles gibt.“

Vielleicht ist es also dieser Mittelweg zwischen der Verdrängung aller Dinge, die mit dem Sterben zu tun haben, und der Nekrophilie, den die Autorin der Gesellschaft vorschlagen möchte.

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