Wer hier regelmäßig mitliest bzw. das Blog als Feed abonniert hat, wird merken, daß mal wieder Winterhalbjahr ist: die Beiträge bleiben aus. Ich habe ja schon darüber geschrieben, daß ich so ab dem Frühjahr in der Festival-Vorfreude (und damit produktiver) bin, aber wenn ich mir die verschiedenen Events in diesem Herbst anschaue, kann ich nicht sagen, daß da „zu wenig los“ war. Und ja, in der Wärme des Sommers fühle ich mich wohler als im Winter.
Doch der eigentliche Grund, warum es aktuell ruhig ist, das ist wieder so eine Phase in meinem Leben, in der ich sehr existentiell denke, so in der Kombination aus Älterwerden, Suche nach dem Sinn des Lebens – ja, und auch etwas Wehmut, wenn man sieht, wie die Felle davonschwimmen. Großen Anteil an diesem Konglomerat von Emotionen hat die aktuelle Politik, insbesondere das Herbeireden und -finanzieren des 3. Weltkriegs und das Verschleudern von Milliarden Euro für – irgendwas.
Ich habe schon immer meine kleinen Kämpfe gegen den Zeitgeist geführt: so in der Beibehaltung der alten Rechtschreibung, weil ich nicht im Ansatz die Notwendigkeit einer Reform nachvollziehen konnte. (Man kann Portemonnaie schreiben lernen – andernfalls sagt man eben Geldbörse oder neudeutsch ‚wallet‘.) So auch in der Ablehnung des Genderns, die ja im Grunde aus der ersten Prämisse abgeleitet werden kann.
Auf anderen Gebieten war ich zielstrebig, aber nicht immer zielsicher, da gibt es durchaus die berüchtigten Brüche im Lebenslauf. Gerade in religiöser Hinsicht (Religion steht für mich immer konträr zum Zeitgeist) könnte ich über vieles berichten; und immer wieder stand für mich die Frage im Raum: wieviel religiöse Thematik soll denn in diesem Blog auftauchen? Gehört Religion zum Thema Gothic? Da würde ich ein großes NEIN setzen. So, wie ich die Szene als unpolitisch wertschätze, schätze ich sie auch als unreligiös bzw. nicht in eine (große) Richtung tendierend. Ja, aktuell ist da viel Neuheidentum im Mixer, früher war der plakative Satanismus etwas dominanter, aber Goth ist nicht einer religiösen Richtung zuzuordnen. Das ist gut so.
Ich habe in meinem Leben viel mit Religion experimentiert, weil ich wissen wollte, ob es eine Tradition gibt, die mich näher an „das Eine“, den „Urgrund“ heranführt als eine andere, als alle anderen. Von diesem Urgrund, das ist mein Lieblingsbegriff, gehen alle Erscheinungen im Universum aus. In ‚Schwarz sein‚ habe ich schon geschrieben, daß ich Denksysteme mag, die die Mechanismen der Wirklichkeit in Gegensätzen verstehen – ganz prominent der Daoismus mit seinem Yin-Yang-Gedanken. Wer nur diese Gegensätze sieht, versteht nicht, daß sie aus diesem Urgrund entstehen und quasi Hilfskonstrukte sind, mit denen wir die Quelle annähernd verstehen können. Gleichwohl war ich lange Zeit Teil einer monotheistischen Religionsgemeinschaft, der katholischen Kirche. Darin bin ich aufgewachsen, daraus mußte ich ausbrechen, dahin habe ich zurückgefunden, um erneut und endgültig den Bruch vollziehen zu können. Ich stehe heute an einem Punkt, an dem ich für mich sagen kann: kein monotheistischer Gott, aber auch keine polytheistische Weltsicht können mich einfangen.
So bleibe ich beim Urgrund, bei der schöpferischen Energie im Universum, einem Universum, das völlig teilnahmslos an den menschlichen Wegen ist. Das vermutlich, könnte es, mit einem Lächeln auf unsere religiösen Versuche schaut. Diese Sichtweise kann Halt geben in unruhigen Zeiten, korrespondiert sie doch mit einer philosophia perennis, die unabhängig von der Zeit ist.
Das ist auch ein Grund für meinen weitgehenden Rückzug aus der Öffentlichkeit, wenn man von diesem Blog und den damit verbundenen Aktivitäten absieht: mit einer dualistischen Sichtweise fährt man in dieser Gesellschaft nicht mehr im sicheren Gewässer. Man kämpft nur solange gegen den Zeitgeist, wie man darin Sinn sieht – und wie man den Kampf tragen, dann ertragen kann.
(Nachtrag: Klar ist: Yin und Yang sind keine fest gegeneinander abgegrenzten Pole, wie schon das Symbol zeigt. Man denke auch an die Animus-/Anima-Konzeption in der Psychoanalyse. Aber es macht eben doch einen Unterschied, ob ich versuche, die Welt aus der (statistischen) Beobachtung heraus zu kategorisieren, oder ob ich sage, alles, was nicht paßt, ist das ’new normal‘.)
Was mir beim Sortieren der Emotionen hilft, sind aktuell drei YouTube-Accounts, die ich kurz vorstellen möchte:
Jennifer Häuser betreibt gleich zwei Kanäle: In „Das Kollaps Mädel“ spricht sie über Kollapsbewußtsein und Polykrise, über den unausweichlichen (?) Lauf der Welt. Einige Videos befassen sich damit, wie isoliert man sich fühlen kann, wenn man so denkt, aber feststellen muß, daß die Welt um einen herum über das Thema lacht – und Party macht. Der Kanal ist relativ jung, hat aber schon knapp 1500 Abonnenten.
Auf ihrem Hauptkanal, Wanderlust Introvert, befaßt Häuser sich damit, wie introvertierte und hochsensible Menschen durchs Leben gehen. Hier schauen regelmäßig 12000 Menschen, was die YouTuberin zu Themen zu sagen hat wie: was sind die Stärken von Introvertierten? Wie finden Introvertierte den richtigen Partner? Schaut z.B. mal in das Video „Du musst NICHT produktiver werden“ rein.
Relativ neu habe ich für mich The Functional Melancholic entdeckt, der seinen Kanal mit „Think deeper, question everything“ bewirbt. Hier geht es z.T. um ähnliche Themen wie in den beiden vorgenannten Kanälen: der zunehmende Einfluß von KI auf das Leben, die Frage nach dem Sinn in einer Gesellschaft, die mit immensen Problemen kämpft. Schaut mal in „The Rise of the low desire society“ rein oder „Meaninglessness for the Modern Age: How to stop searching and start living„.
Aus diesen Anregungen und Überlegungen erwächst auch das Hinterfragen eines solchen Blogs. Wozu brauche ich das? Betreibe ich Selbstdarstellung? Wen interessiert, was ich wahrnehme und beschreibe? Es ist kein Geheimnis, daß die meisten Zugriffe aufs Blog (übrigens mit einem „Allzeit-Hoch“ im Oktober) über Google kommen, nicht von anderen Seiten oder über ein Abo des RSS-Feeds. Das heißt, ich schreibe für eine anonyme Masse potentieller Google-Nutzer „da draußen“, der es weder auffallen noch schaden würde, löschte ich morgen hier alles.
Brauche ich das Blog? Der Functional Melancholic zieht im zweiten, verlinkten Video folgende Konsequenz aus seinen Ausführungen:
„Your life, it doesn’t need an instagrammable arc, you just need yourself embracing the absurdity around you, and maybe a decent cup of coffee and somehow, you know, that’s enough.“
Aber das Blog ist natürlich eine Kommunikationsplattform für mich, an der mein Herz hängt. Da ich täglich mit dieser Absurdität um mich herum lebe(n muß), ist die naheliegende Lösung ein Rückzug, eine innere Emigration. Und dann haben wir noch nicht über Covid und mein Erleben dieser Zeit gesprochen.
Mir gefällt es, Kontrapunkte zu setzen, aber keine groß inszenierten, sondern die halb-öffentlichen, wenig kommunizierten (Ausnahme folgt). So habe ich in einer Zeit, in der alles Russische verteufelt wird, endlich angefangen, einen jahrzehntelangen Wunsch umzusetzen: Russisch zu lernen. Schon immer habe ich den Klang dieser Sprache geliebt – hört mal in Kinelovs „Я свободен“ (Ich bin frei) rein…
Und jede kleine Wanderung ist ein Aufbruch, ein Waldgang auch im übertragenen Sinne: für Samstagmorgen sind hier -7°C angekündigt – und ich werde mit einem Freund zu gut 15km Rundtour losziehen, eingemummt in warme Kleidung, mit einem Rucksack, der die wichtigsten Dinge trägt – und auch einen Patch „Зона відчуження“ – das ist Ukrainisch für die Sperrzone um Tschernobyl – und hier kann ich jetzt das nächste große Faß mit der S.T.A.L.K.E.R.-Thematik aufmachen. Aber das muß kurz zusammengeführt werden: 1971 veröffentlichten die Brüder Strugazki in der Sowjetunion den Roman „Picknick am Wegesrand“ (Пикник на обочине) mit dem Hintergrund einer durch Alien-Einfluß nicht betretbaren, dann abgesperrten Zone, in der es aber wertvolle Artefakte gibt, die von Glücksrittern unter Einsatz des Lebens herausgeholt werden können. Nach der Tschernobyl-Katastrophe 1986 wurde eine ähnliche Sperrzone um die Reaktoren und die Stadt Pripyat gezogen, in der die Radioaktivität hoch war. Doch bald begann eine untergründig-subversive Rückeroberung dieser Sperrzone: alte Dörfler kehrten zurück, um trotz Strahlenbelastung in ihren Häusern leben zu können. Und die zunehmend von der Natur zurückeroberte Geisterstadt Pripyat mit ihren Prachtbauten und Wohnblöcken wurde von Menschen illegal besucht, die z.T. diese Sperrzone als eine Schutzzone verstanden, in der sie vom Zugriff der Außenwelt abgeschottet waren. Ich empfehle hierzu das Buch von Markiyan Kamysh: „Stalking the Atomic City – Life among the Decadent and the Depraved of Chornobyl“. Diese Thematik griffen dann die Computerspiele mit dem Titel S.T.A.L.K.E.R. ab 2007 auf, und so verschmolzen diese Vorstellungen von abgesperrten Zonen, die aber denen, die sich hineinwagten, besondere Dinge bescherten – und wenn es nur der Rückzug vom Außen war. Heute wird der Strugazki-Roman meist unter dem Titel „Stalker“ veröffentlicht; und die Menschen, die Pripyat besuchen und z.T. länger dort leben, werden als Stalker bezeichnet. Der Begriff steht laut Spiele-Hersteller für „Scavenger, Trespasser, Adventurer, Loner, Killer, Explorer and Robber“, aber ich meine, er kommt eher von der 1979er „Picknick“-Verfilmung von Tarkowski unter dem Titel Stalker; der Stalker ist der Wanderer, der Guide, der andere in die Zone führt.
Die Vorstellung vom Leben in solch einer Zone hat für mich etwas stark Anziehendes, wenngleich ich diese Thematik nicht verkläre. Doch jede Wanderung, bei der man sein Hab und Gut auf dem Rücken trägt, ist so eine kleine Unabhängigkeitserklärung, ist eine Übung in Minimalismus. Denn der Sinn des Lebens ist nichts, was man nur „da draußen“ finden kann, sondern er kann auch eine Schutzzone sein, die man für sich definiert.
Und wenn man das jeden Tag haben will, ohne mit dem sonstigen Leben komplett zu brechen, geht man am besten pilgern, wie ich es 2015 tat: gut 800km zu Fuß vom französischen Teil der Pyrenäen durch Nordwest-Spanien bis nach Santiago de Compostela, zwei Jahre später um 200k bis zum „Ende der Welt“ (Finisterre) am Atlantik ergänzt. Jeden Morgen packt man seine Sachen, hebt den Rucksack auf den Rücken, geht durch die Tür und wendet sich gegen Westen, während die Sonne den eigenen Schatten vorauswirft. Ohne Übertreibung kann ich sagen, daß ich mich noch nie so frei in meinem Leben gefühlt habe wie in diesen sechs bzw. acht Wochen. Das Gegenteil dazu waren die Covid-Ausgangssperren…
Ich will es nicht länger fortschreiben, dieses Sich-Drehen um den Sinn, den man mal in den Händen zu halten glaubt, dann wieder nicht greifen kann, vermutlich aber eher dann finden kann, wenn man nicht mehr sucht. Vielleicht ist der Text für dich mehr als mein Lebenszeichen; vielleicht gibt es einen Anknüpfungspunkt für dich und dein Leben. 42! Rush out.